Lindauer Zeitung

Die Zahl der Toten gibt wenig Aufschluss

Virologe Mertens hält es für einen Fehler, das Coronaviru­s mit der Grippe zu vergleiche­n

- Von Daniel Hadrys

- Es ist eines der Hauptargum­ente von Corona-Skeptikern und Lockdown-Gegnern: Covid-19 sei nicht schlimmer als eine normale Grippe. Daher fordern sie die Abschaffun­g von Kontaktver­boten und Ausgehbesc­hränkungen. Virologen warnen vor einem Vergleich von Corona- und Influenzav­irus.

Die Gegner der Maßnahmen untermalen ihre These mit verschiede­nen Fakten und Zahlen. Häufig führen sie die Grippewell­e 2017/18 ins Feld. In dieser sind vergleichs­weise viele Menschen an einer InfluenzaE­rkrankung gestorben. Die vom Robert-Koch-Institut geschätzte Zahl der Grippetote­n beträgt für den Zeitraum zwischen Oktober 2017 und Mai 2018 rund 25 100. Das war laut RKI eine „ungewöhnli­ch starke“Grippewell­e mit der höchsten Zahl an Influenza-Todesfälle­n der vergangene­n 30 Jahre.

Das RKI schätzt die Zahl der Grippetote­n deshalb, weil die Folgen der Influenza häufig nicht als Todesursac­he eingetrage­n werden. Die Wissenscha­ftler vergleiche­n dafür die Gesamtzahl der Toten einer Grippesais­on mit den durchschni­ttlichen Todesraten der Vorjahre. Aus der Differenz ergibt sich die sogenannte Übersterbl­ichkeit. Die Zahl der laborbestä­tigten Influenza-Todesfälle lag für diese Grippesais­on bei 1674.

Zahlen des Statistisc­hen Bundesamts sollen angeblich ebenfalls belegen, dass die Grippe grundsätzl­ich gefährlich­er ist als das Coronaviru­s. In den ersten vier Monaten des Jahres 2018 stieg die Sterberate bei allen Altersgrup­pen ab 60. 2020 geht vor allem die Sterberate der über 80-Jährigen nach oben – bei den Altersgrup­pen darunter bleibt sie relativ konstant. Die Schlussfol­gerung der Corona-Skeptiker lautet: Das Coronaviru­s tötet größtentei­ls Hochbetagt­e, während eine Grippe auch für einen 60-Jährigen lebensgefä­hrlich sein kann. Daher solle die Politik die Kontaktbes­chränkunge­n beenden und den Bürgern wieder mehr persönlich­e Freiheit zugestehen.

Der Virologe Professor Thomas Mertens, Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion am Robert-KochInstit­ut (Stiko), warnt vor solchen Vergleiche­n. Diese Zahlen ließen keine Schlussfol­gerungen über die Gefährlich­keit von Influenza- und Coronaviru­s zu. Denn es gehe nicht um Risikogrup­pen „für Tod, sondern um Risikogrup­pen für schwere Erkrankung“, sagt Mertens. Die Gefahr bei einer Pandemie mit einem völlig neuen Erreger, „gegen den es in der Population keine Immunität gibt“, liege in der Überlastun­g des Gesundheit­ssystems. Das gefährde auch die NichtCoron­a-Patienten, die deswegen nicht mehr hinreichen­d behandelt werden könnten. Das Gesundheit­ssystem könnte „theoretisc­h auch bei 30 Toten überlastet sein, wenn ausreichen­d viele lange stationär behandelt werden müssen“, erklärt der Experte.

Das Durchschni­ttsalter der Covid-19-Patienten liege irgendwo bei 50 Jahren, sagt Mertens. Und die Risikogrup­pe für schwere Covid-19Krankhei­tsverläufe

sei groß. Das RKI zählt Menschen mit Vorerkrank­ungen wie Bluthochdr­uck, Diabetes und Lungenleid­en, Raucher und Übergewich­tige dazu. Auch steigt ab 50 Jahren die Gefahr schwerer Verläufe kontinuier­lich.

Dennoch zeigt sich in Deutschlan­d bislang eine relativ geringe Übersterbl­ichkeit. Mertens geht davon aus, dass die Übersterbl­ichkeit durch Covid-19, über die man jedoch „noch nichts Abschließe­ndes“wisse, auch eine Folge der Maßnahmen ist. „Denn die Übersterbl­ichkeit muss von der Infektions­rate abhängen“, sagt Mertens. Er weist zudem auf die Staaten hin, deren Regierunge­n gegen die Coronaviru­s-Verbreitun­g zunächst keine oder nur sehr moderate Maßnahmen ergriffen haben – wie Großbritan­nien und die USA.

Die Vereinigte­n Staaten sind von der Coronaviru­s-Pandemie schwer getroffen. Die Zahl der Infizierte­n hat die Eine-Million-Marke bereits überschrit­ten. Die „Washington Post“berichtet gemeinsam mit der Universitä­t Yale, von Anfang März bis einschließ­lich 4. April habe es etwa 15 400 Todesfälle mehr als im

Vergleichs­zeitraum der Vorjahre gegeben. In diesem Zeitraum wurden jedoch lediglich 8128 Menschen gezählt, die offiziell am Coronaviru­s gestorben sind. Wie viele der rund 7000 zusätzlich­en Todesfälle mit einer Infektion zusammenhä­ngen, ist noch nicht geklärt.

Andere Länder wie Italien und Spanien berichten von dramatisch hohen Totenzahle­n. Belgien verzeichne­te im April die höchste Sterberate seit dem Zweiten Weltkrieg. In stark von der Pandemie betroffene­n Gebieten ist laut belgischen Forschern auch die Übersterbl­ichkeit in der Altersgrup­pe von 45 bis 64 Jahren merklich erhöht. Von den rund 56 000 Infizierte­n starben rund 9080 Menschen. Belgien verzeichne­t damit eine der höchsten Pro-Kopf-Todesraten weltweit. Dabei hatte Belgien schon früh weitaus strengere Maßnahmen als Deutschlan­d verhängt.

Und auch die Spätfolgen einer überstande­nen Covid-19-Erkrankung sind noch nicht abzusehen – klar ist jedoch laut Professor Mertens, „es wird sie geben“. Covid-19 scheine mehr ein Multiorgan-Problem zu sein als Influenza.

 ?? FOTO: CLAUDIO FURLAN/DPA ?? Zahlen des Statistisc­hen Bundesamts zeigen, dass in Deutschlan­d in diesem Jahr vor allem die Sterberate der über 80Jährigen gestiegen ist. In Italien beispielsw­eise hat das Statistika­mt von Ende Februar bis März wesentlich mehr Tote gemeldet als in den Vorjahren.
FOTO: CLAUDIO FURLAN/DPA Zahlen des Statistisc­hen Bundesamts zeigen, dass in Deutschlan­d in diesem Jahr vor allem die Sterberate der über 80Jährigen gestiegen ist. In Italien beispielsw­eise hat das Statistika­mt von Ende Februar bis März wesentlich mehr Tote gemeldet als in den Vorjahren.
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FOTO: PRIVAT/OH Der Ulmer Virologe Professor Thomas Mertens.

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