Wenn Erinnerungen sich unterscheiden
LZ-Serie – Teil 11: Magdalena Krug und ihre Tochter erinnern sich an ihre ersten Tage in Freiheit
- Als in Lindau die französischen Truppen einmarschierten, war Magdalena Krug gerade einmal 24 Jahre alt und Mutter einer kleinen Tochter. Ihr Mann kämpfte für das Dritte Reich. Bevor sie starb, hat sie ihre Erinnerungen an die ersten Tage in Freiheit niedergeschrieben. Ihre Tochter Carola Lobmayer hat diese der Lindauer Zeitung gegeben und sich selbst an diese Zeit erinnert. Was für die Erwachsenen ein Albtraum war, erlebte die damals Vierjährige als spannende und aufregende Zeit.
Wenige Stunden, nachdem der erste Panzer auf die Insel rollte, wurde die Stadt im Alten Rathaus offiziell an die französischen Truppen übergeben. Schnell besetzten diese Privathäuser, Mietwohnungen und Pensionen. Soldaten zogen in die ehemalige Brauerei „Schachen „und in das Hotel „Schachen Schlößle“ein. Während des Ersten Weltkriegs wurden dort Verwundete versorgt, nun lebten dort „Franzosen, Legionäre, Senegalesen“, schreibt Magdalena Krug. Mit Folgen für die Lindauer Bevölkerung. Die Leute mussten Matratzen und Betten zur Verfügung stellen. „Sie waren freilich für die früheren Besitzer nicht mehr verwendbar.“
Zusammen mit ihrer vierjährigen Tochter, den zwei Schwestern und den Eltern wohnte sie in einem Nebengebäude des Hotels. „Dreimäderlhaus“hätten es die Nachbarn genannt. Der General Lattre de Tassigny zog in die Villa Wacker in Schachen ein. Auf seinen Befehl mussten wegen angeblicher Übergriffe auf die französische Besatzungsmacht am 23. Mai viele Lindauer ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Wenige Stunden hatten sie dafür Zeit. Nur Ärzte, Schwangere und Kranke durften in ihren vier Wänden bleiben. Auch die Familie Krug musste plötzlich innerhalb weniger Stunden ein Zuhause finden. Glücklicherweise hatten Verwandte ein Haus in Wasserburg. Im Keller fand die Familie Platz, der Rest des Hauses sei schon voll mit Flüchtlingen gewesen. Für die Erwachsenen waren die Tage ein nicht enden wollender Abraum – nicht aber für die vierjährige Carola. Sie erlebte den Krieg und die Nachwehen aus ihrer kindlichen Sicht. Vor allem die Evakuierung nach Wasserburg fand sie spannend, schreibt sie. Die Familie wohnte direkt am See, es gab viele andere Kinder und vor allem die gekochten Kartoffelschalen, die es zum Essen gab, begeisterten sie. In ihrer kindlichen Euphorie nahm sie die Essensnot überhaupt nicht war.
Als über Lindau die Flugzeuge mit ihren Bomben nach Friedrichshafen flogen, dachte sie sich: „toll, Flugzeuge.“Sie fühlte sich in einem Abenteuer. Wenige Tage später durfte die Familie zurück in ihr Zuhause. Dort trafen sie das pure Chaos an. Trotz Verbots kam es in etlichen Wohnungen zu Plünderungen. „Schränke waren durchwühlt, alle wertvollen Negativen verschwunden, ebenso meine 60 cm langen Zöpfe, die ich für Puppenperücke
vorgesehen hatte“, schreibt Magdalena Krug.
Die Menschen in Lindau lebten nun in Freiheit, dafür aber auf begrenztem Raum. Die Familie teilte sich rund 40 Quadratmeter. „Kein Speicher, kein Keller“, schreibt Magdalena Krug. Dafür hatte die Familie eine Dunkelkammer, denn ihr Vater betrieb früher ein Fotogeschäft. Carola versteckte sich in diesem dunklen Raum öfters. Die Besatzer lebten nur einen Steinwurf entfernt. Sehr zur Freunde der kleinen Carola. Neugierig schaute sie öfters in der Küche im „Schlößle“vorbei. Von den Soldaten bekam sie häufiger Brot, Zucker, Mehl oder Eier geschenkt.
„Ich war stolz, meine Familie ernähren zu können.“Wie in allen Familien war Hunger ein großes Thema. „Einmal habe ich getanzt vor Freude, als ich ein Brot bekam“, erzählt sie.
Eines Tages wollten sich zwei Soldaten in die kleine Wohnung über der Familie einquartieren. Das ältere Paar, das darin wohnte, musste innerhalb weniger Stunden ausziehen. Sie kamen bei einem Verwandten unter. Schon am Abend zogen die Soldaten ein – und nutzten rege die Küche der Familie. „Es duftete nach Braten. Knusprig braun schmorten die Koteletts in Mamas Pfanne – leider nicht für uns. Uns blieb Küchenmeister Hunger noch drei weiter Jahre treu“, schreibt Magdalena Krug. An diesem Abend geschah etwas, was bis dato noch nie vorgekommen sei. Der Vater verriegelte die Türen, „denn gewisse Blicke der Besatzer auf sein Dreimäderlhaus waren eindeutig.“
Die kleine Carola faszinierten vor allem die Soldaten aus dem Senegal – noch nie zuvor hatte sie schwarze Menschen gesehen und kannte nur das Lied „Zehn kleine Negerlein“. Einer hatte sie in sein Herz geschlossen, denn er habe wohl auch eine Tochter in ihrem Alter gehabt, glaubt sie. Einmal durfte die Vierjährige in das Innere eines Panzers klettern. Es kam nun häufiger vor, dass die Soldaten die Familie besuchten, da sich herumgesprochen hatte, dass der Vater Fotograf war. Von nun an fertige er Portraits von ihnen an und da er gut französisch sprach, kam die Familie wohl glimpflich davon, schreibt Magdalena Krug.
Sehr entbehrungsreich war die Nachkriegszeit – aber für Carola auch wunderschön zugleich, schreibt sie. Von den Soldaten bekam sie öfters etwas Leckeres wie Bananen, Orangen, Schokolade zugesteckt. In den Wirren der Nachkriegszeit war für sie die Welt noch voller schöner Überraschungen.