Vom Sofa auf den Olymp
Als erster Deutscher: Eishockeyprofi Leon Draisaitl wird zum Topscorer der NHL gekürt
(SID) - Bei seiner Torpremiere war Leon Draisaitl noch nicht der eiskalte Vollstrecker, sondern ein leicht tollpatschiger Anfänger. Nach seinem „eher so reingeschlitterten“ersten Treffer in der Eishockey-Profiliga NHL war er seinem damaligen Kapitän Andrew Ference derart ungelenk in die Arme gesprungen, dass beide zusammen aufs Eis fielen. „Keine Frage“, hatte der damals 18-Jährige anschließend gesagt, „das Jubeln muss ich noch üben.“
Draisaitl bekam seitdem reichlich Gelegenheit zum Üben. Allein in dieser Saison erzielte der Nationalspieler für die Edmonton Oilers bis zum Corona-Stopp sagenhafte 43 Tore und 67 Vorlagen. Diese 110 Punkte hievten ihn nun auf den Olymp. Am Dienstagabend, an dem die NHL einen erweiterten Play-off-Modus zur Rettung der Saison vorstellte, wurde Draisaitl als erster deutscher Profi zum ScorerKönig der besten Eishockeyliga der Welt ausgerufen.
Der Stürmer nahm die besondere Auszeichnung ähnlich gelassen zur Kenntnis, wie er mittlerweile seine vielen Tore feiert. „Natürlich fühle ich mich durch die Art Ross Trophy sehr geehrt“, sagte der 24-Jährige, „doch im Mittelpunkt steht für mich immer das Team.“Diese Bescheidenheit rechtfertigt seinen Spitznamen „Eis-Nowitzki“, mit dem ihn die heimische Presse oft mit Dirk Nowitzki vergleicht. Genau wie der zurückgetretene Basketballstar wird Draisaitl in Nordamerika vor allem deshalb verehrt, weil er ohne Allüren abliefert. Das beeindruckt sogar den vielleicht besten Eishockeyspieler aller Zeiten: „Leon kombiniert Talent mit der richtigen Einstellung. Er hat das nötige Arbeitsethos“, schwärmte EishockeyIkone Wayne Gretzky. Genau deshalb werde der junge Deutsche „jedes Jahr noch stärker“, ergänzte der Kanadier, auch wenn Draisaitl schon „von Anfang an herausragend“gewesen sei.
Das ist ein bisschen geflunkert von Gretzky, denn Draisaitl hatte einige
Anpassungsprobleme in der NHL. 2014 an dritter Stelle gedraftet, erfüllte das Ausnahmetalent die Erwartungen der Oilers zunächst nicht. Nach 37 NHL-Spielen schickte ihn der fünfmalige Stanley-Cup-Gewinner zurück zu den Junioren. Der „Abstieg“tat Draisaitl gut, mit Fleiß und Ehrgeiz arbeitete er erfolgreich an seinen Defiziten. Inzwischen ist er der wohl kompletteste Center der Liga. „Ich sage es schon seit Jahren: Leon ist ein wunderbarer Spieler. Es ist schön, dass er endlich auch die Anerkennung bekommt“, sagte Edmontons Kapitän Connor McDavid, der sich mit Platz zwei in der Scorer-Wertung begnügte. Auch bei der MVP-Auszeichnung für den wichtigsten Spieler der Saison dürfte Draisaitl die Nase vorn haben.
Für das deutsche Eishockey ist Draisaitl, dessen Vater Peter die Ravensburg Towerstars 2011 zur DEL2Meisterschaft gecoacht hatte, Gold wert. Auch deshalb gratulierte der Deutschen Eishockey-Bund (DEB) geschlossen zum Aufstieg in die Riege der ganz Großen. Bundestrainer Toni Söderholm sprach von einem „beeindruckenden Schritt“, für Verbandspräsident
Franz Reindl besitzt Draisaitls Meilenstein „eine überragende Strahlkraft mit Vorbildcharakter“.
Der gebürtige Kölner würde aber jede persönliche Auszeichnung gegen seinen großen Traum vom StanleyCup-Triumph, also der Meisterschaft in der NHL, eintauschen. Die Chance auf den großen Coup in dieser Saison besteht weiterhin. Nach dem CoronaStopp im März sah es eine Weile so aus, als wäre Draisaitls Saison seines Lebens nur für Statistikfreunde von Wert. Nun aber hat Liga-Boss Gary Bettman die Pläne bekannt gegeben, wie die NHL nach der Zwangspause weitermachen möchte. Direkt mit etwas umfangreicheren Play-offs als üblich, mit 24 statt 16 Teams. Die Hauptrunde ist offiziell beendet.
Wann der Spielbetrieb fortgesetzt wird, ist noch offen. Eine Rückkehr ins normale Teamtraining wird es nicht vor dem 1. Juli geben. Draisaitl muss sich für einen möglichen Titel also weiter gedulden. Seit dem Stopp am 12. März, so berichtete der Topscorer, habe er „irgendwie die Zeit totgeschlagen“. Und am Dienstag den NHL-Olymp bestiegen.