Im Cabriolet durchs Erdbeerfeld
Erntehelferin im Selbstversuch: krummer Rücken und zufriedene Seele
- Seit es zu Beginn der Corona-Pandemie hieß, unsere Landwirte bekommen Schwierigkeiten bei der Erdbeerernte, weil ihre langjährigen Erntehelfer aus Polen und Rumänien nicht kommen können, war für mich klar, dass ich helfen möchte. Ich habe mich in die Helferliste eingetragen. Zu einem akuten Hilfseinsatz ist es aber nicht gekommen, weil die meisten Erntehelfer letztendlich doch angereist sind. Trotzdem wollte ich meinen guten Willen unter Beweis stellen und vor allem am eigenen Leib spüren, wie es sich anfühlt, die Ernte einzubringen.
Mein erster Pflücktag auf dem Obsthof Nüberlin: Gegen sieben Uhr morgens geht es los. Es ist noch frisch, sechs Grad Celsius zeigt das Thermometer, als ich mit gepackter Tasche – Desinfektionsmittel, Mundschutz, Sonnencreme, Sonnenhut, Trinkflasche – am Erdbeerfeld stehe. Die anderen Erntehelfer sind schon seit einer Stunde an der Arbeit. Viele Gedanken habe ich mir gemacht: Wie viele Kilo werde ich schaffen? Wie macht man überhaupt die Erdbeeren vom Strauch ab? Hätte ich ein kleines Küchenmesser mitnehmen müssen? Pflücke ich auf den Knien oder stehend gebückt?
Kann ich das den ganzen Tag aushalten?
Lena Nüberlin empfängt mich fröhlich. Sie ist Obstbaumeisterin und gemeinsam mit ihrem Bruder Florian bereits die nächste Generation Obstbauern im Hause Nüberlin. Die Erntewägen, die sie mir als erstes zeigt – gebaut wie einfache Gokarts mit Sonnenschutzdach, und man fährt damit rückwärts – sind dann eine echte Überraschung für mich. Was für ein Luxus denke ich, mache es mir breitbeinig auf dem letzten bequem, Lena nennt ihn Cabriolet, weil er kein Sonnendach hat, und stelle mir vor, dass ich es darauf ohne Probleme den ganzen Tag aushalten werde.
Was sich 90 Minuten später, als ich mit meinen ersten gefüllten Platten (das sind Obstkistchen aus leichtem Holz, für je zehn 500-Gramm Schalen) aufstehen will, als Trugschluss herausstellt. Ich merke, dass mir in dieser kurzen Zeit der aufrechte Gang abhandengekommen ist. Die zusammengekauerte Haltung ist viel anstrengender, als ich dachte. Es dauert eine ganze Weile, bis ich die Wirbelsäule strecken und loslaufen kann. Die Oberschenkel fühlen sich an, als hätte ich stundenlang auf einem breiten Pferderücken zugebracht. Zuvor aber stellt mir Lena die
Erdbeersorte Clery vor und zeigt mir, wie ich mit beiden Händen locker die Erdbeerstauden durchsuche, die Früchte mit der linken leicht anhebe und mit Daumennagel und Zeigefinger der rechten den Stiel ganz nah am Blütenblattkranz abknipse. Ein zu langer Stiel würde die anderen Früchte verletzen. Meine zu Hause frisch gewaschenen Hände habe ich am Feld noch desinfiziert. Lena erzählt, dass das auch die Erntehelfer so machen. Dass sie aber natürlich auch schon vor Corona mit gewaschenen Händen aufs Feld sind. Mundschutz ist keiner notwendig.
Angst um die Ernte
Während ich zu pflücken beginne, berichtet mir Lena über die viele notwendige Arbeit, vom Setzen der Erdbeerpflanzen bis zur Ernte. Beispielsweise vom Beregnen in Frostnächten – mit wieviel Herzschmerz und Aufregung das verbunden ist, und Sorge, es auch ja zur richtigen Zeit zu machen. Denn wenn die Blüten erfrieren, ist es mit der Ernte vorbei. Sie lobt ihren aktuellen Erdbeeracker, direkt hinter dem Obsthof Jäger, mit dem sie sehr glücklich seien: „Eine super Lage. Hier haben wir den besten Boden, den wir uns wünschen können.“
Und sie erzählt, wie das heuer mit ihren Erntehelfern war, die teilweise seit über 30 Jahren im Familienverbund kommen und beinahe schon Teil der Familie Nüberlin seien. Mit den Worten „Martin, mein Bruder!“begrüße beispielsweise Marian, ihr ältester Erntehelfer, ihren Papa. „Das ist sehr schön, und der gegenseitige Respekt ist groß. Sie sind bei uns gut untergebracht und kommen gern.“
Dieses Jahr sei es erst seltsam gewesen. „Unsere Erntehelfer hatten Angst. Die Berichterstattung in Polen über Deutschland muss eine Katastrophe gewesen sein. Sie dachten, wenn sie deutsche Luft einatmen, werden sie krank“, sagt Lena und ihr Papa Martin bekräftigt, „in den polnischen Medien hieß es, dass die Leute in Deutschland auf der Straße umfallen und an Corona sterben.“Die treuen Seelen kamen dann aber doch, mussten zwei Wochen in Quarantäne und sind inzwischen beruhigt. Martin Nüberlin ist froh, denn es gibt wirklich viel zu tun: „Das Wetter ist perfekt für die Erdbeeren. Schön warm, aber nicht zu heiß. Nicht zu trocken. Die Erdbeeren reifen in einem guten Tempo.“Eine wichtige Frage, die ich an Lena habe, ist, wie ich denn die Schälchen gleichmäßig voll bekomme. Ich bin nämlich die, die für ihre Kinder die Erdbeeren immer ganz gerecht abgezählt und nach Größen aufgeteilt hat. Lena erklärt mir, dass ich die Erdbeeren, wie sie kommen, reihum in die Schalen hineinlegen soll.
Die Natur gibt die richtige Mischung vor, wenn ich die Sträucher der Reihe nach abernte. Und tatsächlich, als meine erste Platte voll ist, sind alle Schalen gleichmäßig mit bildschönen, reifen, roten Beeren gefüllt. Das ist mir wichtig, denn das ist ja keine anonyme Supermarktware, sondern hinter jedem Schälchen Erdbeeren steht das Gesicht der Familie Nüberlin.
Morgens um 6.30 Uhr auf dem Erdbeerfeld: Ruhe
Mein zweiter Pflücktag. 6.30 Uhr morgens. Kein Muskelkater erstaunlicherweise. Es herrscht beinahe vollkommene Ruhe auf dem Erdbeeracker. Keine Straße ist in der Nähe. Bienen summen. Vögel zwitschern. Das leise Klicken beim Abknipsen des Stiels. Ab und zu quietschen die Räder meines Cabriolets, wenn ich es rückwärts weiter schiebe. Es riecht gut und warm nach wilder Kamille. Später läuten die Kirchenglocken den Pfingstsonntag ein. Wie friedlich sich alles anfühlt – beinahe meditativ. Im Gegensatz zu den routinierten Erntehelfern habe ich keine Eile, obwohl mein Ehrgeiz, schneller zu werden, mit jeder Platte steigt.
Ab und zu erzählt jemand einen Witz auf Polnisch, und alle lachen.
Aber dann höre ich auch das nicht mehr, denn die anderen sind wieder viel schneller als ich und bald weit entfernt. Vor mir die glänzend roten Erdbeeren. In mir viele Gedanken, und die Verantwortung auch ja keine der reifen Früchte zu übersehen – denn bis zur nächsten Pflückrunde ist sie vielleicht schon überreif, und das hat keine der schönen Erdbeeren verdient.
Meine Wertschätzung für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse unserer Region war immer schon groß, und mir war immer schon klar, dass in so einer Schale Erdbeeren viel mehr Arbeit steckt, als vermutet – und da ist das anstrengende Pflücken nur der letzte Handgriff. Vieles wusste ich dennoch nicht. Beispielsweise, dass Erdbeeren Sammelnussfrüchte sind, wie Lena erzählt hat. Die eigentliche Frucht seien die kleinen gelben Nüsschen, die viel Eiweiß enthalten. Das Fruchtfleisch, das wir schätzen, ist nur dazu da, um sie zusammenzuhalten.
Am Ende meines zweiten Erntetags geht es mir einfach nur gut – 66 Kilogramm Erdbeeren habe ich in insgesamt zehn Stunden geschafft – mit nebenher reden und fotografieren. Profis haben dafür natürlich nur ein müdes Lächeln übrig. Aber ich bin stolz. Es war eine schöne Erfahrung, die süßen Früchte zu pflücken und mir dabei vorzustellen, wie gut sie demjenigen schmecken werden, der sie essen wird.