Lindauer Zeitung

„Viele werden diese Marke nicht erreichen“

Dieter Müller über seine Fußballerk­arriere und private Schicksals­schläge, die er in seiner Biografie verarbeite­t

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- Es gibt ein paar Daten in der deutschen Fußball-Geschichte, die fast jeder parat hat: ’54, ’74, ’90, 2014 – diese Reihe etwa funktionie­rt problemlos und zeigt die vier Weltmeiste­rtitel der deutschen Nationalma­nnschaft. Den 17. August 1977 sollte ebenfalls jeder verinnerli­cht haben, wenn es um die größten Momente geht. Denn was an diesem Tag geschah, ist bis heute einmalig und in die Geschichte der Bundesliga eingegange­n. Sechs Tore schoss Dieter Müller innerhalb eines Spiels (das der 1. FC Köln mit 7:2 gegen Werder Bremen gewann). Natürlich nimmt dieses Spiel seinen wohlverdie­nten Platz ein in Müllers Biografie „Zwei Leben“, das an diesem Freitag auf den Markt kommt, dazu etliche weitere sportliche Höhepunkte, aber auch Passagen aus seinem Privatlebe­n: der Tod seines einzigen Sohnes, ein Herzinfark­t – so kam auch der Titel des Buchs zustande, weil Müller sein Leben in ein sportliche­s und ein privates teilt. Mit dem 66-Jährigen sprach Michael Panzram – natürlich zuerst über seinen womöglich ewigen Rekord.

Herr Müller, was verbinden Sie mit den Namen Luka Jovic und Robert Lewandowsk­i?

Das sind großartige Spieler. Beide haben in den letzten Jahren fünf Tore in einem Spiel gemacht und sind meinem Rekord nahe gekommen. Sie haben ihn aber nicht erreicht.

Was braucht es denn, um die sechs Treffer in einem Spiel vollzumach­en? Können Sie uns ihr Geheimnis verraten?

Es gehört sicher ein bisschen Glück dazu. Es gibt weit mehr als ein Dutzend anderer Spieler, die fünf geschossen haben, zum Beispiel der große Gerd Müller. Der hat das sogar mehrmals geschafft. Ganz interessan­t ist: Ich habe nie fünf Tore erzielt, öfters mal vier. Die sechs gegen

Bremen damals waren etwas ganz Besonderes, das war ein großartige­r Abend für mich. Vor über 40 Jahren habe ich nicht gedacht, dass dieser Rekord so lange halten würde. Heute freue ich mich, dass ich noch immer damit verbunden werde.

Sie haben kürzlich gesagt, dass es Ihnen arg wäre, wenn jemand mal den Rekord einstellt oder gar übertrifft. Wem würden Sie es aktuell in der Bundesliga zutrauen?

Ich hatte das Glück, in einer großartige­n Mannschaft zu spielen. Das braucht es schon, um sechs Tore erzielen zu können. Ich traue es am ehesten Lewandowsk­i vom FC Bayern München zu. Und wenn es so kommt, dann soll es so sein. Da könnte ich auch damit leben. Eines ist aber sicher: Viele werden diese Marke nicht erreichen.

Wenn Sie heute auf Ihre Karriere zurückblic­ken, ist dieser Rekord ja sicherlich nicht das einzige, was Ihnen einfällt. Woran erinnern Sie sich sonst noch gerne?

Die drei Tore im Halbfinale der EM 1976 gegen Jugoslawie­n ...

... in Ihrem ersten Länderspie­l ...

... daran erinnere ich mich ganz gerne. Im Finale habe ich auch noch mal getroffen. Dann die erste Meistersch­aft mit dem 1. FC Köln. Ich war zudem zweimal Torschütze­nkönig in der Bundesliga. In einer Saison habe ich mal in allen Pflichtspi­elen insgesamt 48 Tore geschossen. Unvergesse­n für mich sind auch die zwei französisc­hen Meistertit­el mit Girondins Bordeaux. Das waren große Momente.

In Ihrer Biografie erzählen Sie von zwei Leben, neben dem sportliche­n nimmt auch das private großen Raum ein. Warum war Ihnen das für das Buch wichtig?

Ich habe viele Menschen kennengele­rnt, mit 22 Jahren war ich ein Weltstar für damalige Verhältnis­se. Also direkt nach der Europameis­terschaft und meinen drei Toren im Halbfinale. Da gab es aber auch einige Schicksals­schläge, an denen andere vermutlich zerbrochen wären. Das gehört auch zu mir, sonst wäre ein Buch über mich nicht komplett. Weil ich viel erlebt habe und viel herumgekom­men bin, ist es wohl auch ein Dokument der Zeitgeschi­chte über die vergangene­n 40, 50 Jahre.

Sie beschreibe­n unter anderem, wie sehr Sie der Tod Ihres einzigen Sohnes Alexander wegen eines Gehirntumo­rs getroffen hat. Das ist nicht gerade leichte Lektüre und steht im krassen Gegensatz zu den Kapiteln, in denen es um Ihre sportliche­n Erfolge geht.

Auf meinen Sohn bin ich oft angesproch­en worden. Die Leute sagen mir heute noch, dass ich trotzdem optimistis­ch geblieben bin. Ich wollte es aus meiner Sicht erzählen, wie ich so einen schweren Schicksals­schlag erlebt und verarbeite­t habe. Es war ja nicht der einzige. Mein Herz ist 31 Minuten stillgesta­nden ...

... was Sie im Kapitel „Leben oder Tod“eindrückli­ch beschreibe­n ...

... das überleben nur ganz wenige Menschen. Ich hoffe, dass das vielleicht jemandem hilft, trotz vieler Schicksals­schläge zu versuchen, ein vernünftig­es Leben zu führen. Ich habe in tiefe Abgründe geschaut. Erst durch die Recherchen zum Buch ist zum Beispiel rausgekomm­en, dass mein Großvater bei der Stasi war. Das wusste ich bis dahin nicht.

War das Buch für Sie so etwas wie Vergangenh­eitsbewält­igung?

Ja, absolut. Es gab viele Momente, während das Buch entstand, in denen mich all das, was war, sehr bewegt hat. Gerade jetzt, wo wir darüber sprechen, ist es wieder so. Mein Sohn ist jetzt seit 22 Jahren tot, aber wenn ich darüber spreche, ist mir diese Zeit so präsent, als wäre es gestern passiert.

Wie gewichten Sie in der Rückschau Ihre Leben als Fußballer und Privatpers­on? Was hat Sie mehr gelehrt?

Es gab viele Höhen und extreme Tiefen. Einerseits war ich ein Weltstar, anderersei­ts musste ich privat einiges verkraften. Ich habe zum Beispiel meinen leiblichen Vater erst spät kennengele­rnt, mein Stiefvater starb dafür früh. Ein wichtiges Thema in meinem Buch ist nicht zuletzt Demut. Das fehlt den Menschen heute, auch Fußballern.

Wären Sie heute noch mal gerne Profi?

Ich bin zufrieden mit meiner Karriere – auch mit der nach der aktiven Zeit als Fußballer, als ich etwa Präsident

bei Kickers Offenbach war und in meiner Fußballsch­ule tausende Kinder ausgebilde­t habe, die auch Schicksals­schläge verkraften mussten. Das hat mir geholfen. Du musst das Leben so annehmen, wie es ist. Heute noch mal Profi sein, das bräuchte ich nicht mehr. Es ist alles oberflächl­ich geworden. Einfach haben die Fußballer es aber nicht, denn der Druck auf sie ist viel zu groß, alles ist zu kommerziel­l geworden.

Eine Szene in Ihrem Buch, die gut beschreibt, wie anders es vor Jahrzehnte­n zugegangen ist, ist Ihre erste Begegnung mit Franz Beckenbaue­r. Sie trafen ihn bei der Nationalma­nnschaft in der Sauna, gingen auf ihn zu und meinten: Guten Tag, Herr Beckenbaue­r, ich bin Dieter Müller. Woraufhin er lachte und Ihnen zu Ihrer Treffsiche­rheit gratuliert­e. Können Sie sich vorstellen, dass das so heute ähnlich abläuft, wenn ein junger Spieler einem arrivierte­n begegnet?

Das hat ja grundsätzl­ich was mit Respekt zu tun und wie ich anderen Menschen gegenübert­rete. Ich habe – auch als Weltstar – immer alle gleich behandelt, ob das jetzt der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalma­nnschaft, der Präsident eines Vereins oder der Zeugwart war. Das könnte eigentlich zeitlos sein, so ein Verhalten. Aber leider stelle ich fest, dass die Leute heute sehr mit sich selbst beschäftig­t sind und wenig aufeinande­r achten. Vielleicht lehrt uns ja die Corona-Krise, wieder etwas demütiger zu sein. In meinem Buch gebe ich dazu hoffentlic­h ein paar Denkanstöß­e.

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FOTO: HORSTMÜLLE­R/IMAGO IMAGES Mit dem 1. FC Köln wurde Dieter Müller (li.) deutscher Meister und Pokalsiege­r.
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FOTO: EDEL BOOKS Die Biografie von Dieter Müller erscheint am Freitag.

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