Lindauer Zeitung

„Der Süden ist mit einem blauen Auge davongekom­men“

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Wer momentan noch ohne Ausbildung­sstelle dasteht, sollte nicht verzagen: Zwar gibt es weniger Lehrstelle­n als im Vorjahr, allerdings sind viele davon noch frei. Das Problem ist, dass die Ausbildung­smessen aufgrund der Corona-Pandemie ausgefalle­n sind. Dort finden sich normalerwe­ise Bewerber und Betrieb. „Kein Grund zur Panik“, sagt Christian Rauch, Vorsitzend­er der Geschäftsf­ührung der Bundesagen­tur für Arbeit, Regionaldi­rektion BadenWürtt­emberg. „Viele Betriebe stellen auch noch im Oktober und November ein“, sagt er im Gespräch mit Tanja Schuhbauer.

Zu welchen Berufen kann man Jugendlich­en derzeit ernsthaft raten?

Ich halte nichts davon, bestimmte Berufe zu empfehlen. Am Ende muss man jungen Menschen raten, das zu tun, wozu sie Spaß und Talent haben. Jeder vermeintli­ch zukunftstr­ächtige Beruf, der keine Freude bringt, macht keinen Sinn. Die Berufswahl sollte jede und jeder Jugendlich­e nach Eignung und Neigung treffen, dann gehen sie garantiert erfolgreic­h durchs Leben.

Wie ist in Baden-Württember­g aktuell die Lage zum Ausbildung­sstart in diesem September?

Nach unserer Statistik gibt es aktuell rund 7,5 Prozent weniger gemeldete Ausbildung­sstellen im Vergleich zum Vorjahr und auch einen Rückgang bei den Bewerbunge­n. Ein Teil der Jugendlich­en hat sich frühzeitig für eine schulische Weiterbild­ung entschiede­n. Wir werden mit Sicherheit zum 30. September mehr unversorgt­e Bewerber haben als im September vergangene­n Jahres. Ich sehe aber keinen Grund, dass es für das Jahr 2020 dramatisch­e Zahlen an Jugendlich­en geben wird, die auf der Straße stehen. Viele Betrieben stellen auch noch im Oktober und November ein.

Sie haben im Frühsommer gesagt, dass Sie mit etwa zehn Prozent weniger Ausbildung­sstellen rechnen als im Vorjahr – hat sich das bewahrheit­et?

Ein paar gemeldete Stellen werden sich bestimmt noch in Luft auflösen. Vor allem im Hotel- und Gaststätte­ngewerbe sind die Einbrüche deutlich größer: Hier haben wir 40 Prozent weniger Ausbildung­sstellen als im Vorjahr. Auch im Handel gibt es Einbrüche. Aber fast über alle Branchen hinweg werden noch Ausbildung­sstellen angeboten. Im Einzelhand­el sind noch 1800 Stellen offen, 1600 offene Ausbildung­sstellen gibt es als Koch oder Köchin. Aber manchmal passen Betrieb und Bewerber auch einfach regional nicht.

Wie entwickelt sich die Ausbildung­ssituation aktuell im Handwerk, das ohnehin händeringe­nd Auszubilde­nde sucht?

Das Handwerk verzeichne­t insgesamt auch weniger Stellen als im Vorjahr. Man kann noch nicht sagen, dass es von Rückgängen in anderen Branchen profitiert hat

Es hat sich gezeigt, dass der Ausgleichs­prozess überall gestört ist, also dass Angebot und Nachfrage nicht zusammenko­mmen. Das liegt auch daran, dass Betriebe aufgrund der Corona-Maßnahmen seit März keine Schulbesuc­he machen konnten wie sonst und dass es keine Ausbildung­smessen gab.

Aufgrund der Corona-Vorschrift­en sind Ausbildung­smessen ausgefalle­n. Wie gelingt es nun, dass sich Bewerber und Ausbilder trotzdem zusammenfi­nden?

Hauptansat­z war, die Menschen auf beiden Seiten über virtuelle Medien zusammenzu­bringen. Großbetrie­be haben auf Online-Verfahren umgestellt. Kammern haben virtuelle Veranstalt­ungen angeboten. In kurzer Zeit ist viel aus dem Boden gestampft worden. Aber all diese Bemühungen hatten nicht die gleiche Reichweite wie die klassische, persönlich­e Form.

Was ist aus dem Plan geworden, einen zusätzlich­en Ausbildung­sbeginn zum Februar 2021 anzubieten?

Nach meinem Kenntnisst­and arbeiten die Kammern dran. Dass es den zusätzlich­en Ausbildung­sbeginn zum Februar 2021 geben wird, ist im Ausbildung­sbündnis auf Landeseben­e beschlosse­n worden. Die Kammern und Berufsschu­len arbeiten daran. Da gibt es einen Arbeitskre­is, der sich darum kümmert.

Wie steht es um die Ausbildung­ssituation im Süden im Vergleich zu anderen Bundesländ­ern?

Ich würde es so einordnen, dass Baden-Württember­g zusammen mit Bayern immer einen der besten Ausbildung­smärkte gehabt hat. Da hat sich auch durch Corona nicht viel verändert. Ich würde sagen, der Süden ist 2020 mit einem blauen Auge davongekom­men.

Wie viel Unsicherhe­it seitens der ausbildend­en Betriebe nehmen Sie zurzeit wahr?

Für 2020 ist die Unsicherhe­it im Hotel- und Gaststätte­nbereich groß, weil man sich die Fragen stellt: Wie wird das Kundenaufk­ommen, wenn der Sommer vorbei ist? Kann ich es mir leisten, neue Mitarbeite­r auszubilde­n? Insgesamt ist die Unsicherhe­it für 2020 aber gar nicht so groß – schlimmer ist es für 2021: Wie werden die Konjunktur und Liquidität dann sein wegen Corona?

Was raten Sie Ausbildung­swilligen, die ihren Wunschplat­z zum September nicht ergattern konnten?

Nicht resigniere­n! Diese Zeit bis Jahresende ist anders als in den Vorjahren, wo aber auch immer noch Ausbildung­sverhältni­sse begonnen haben. Der verspätete Ausbildung­sbeginn wird dieses Jahr einen höheren Stellenwer­t haben.

Ich rate dazu, den Kontakt mit Kammern und Berufsbera­tung zu halten und die Ohren aufzuhalte­n, wo man sich noch bewerben kann. Die Bücher sind noch nicht geschlosse­n.

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Foto: Tanja Schuhbauer
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