Wiedergeburt in Weiß und Rot
Das litauische Vilnius ist die Hochburg der belarussischen Exilopposition – Eine Sorge gibt es in beiden Ländern
Kastus Kalinouski starrt immer wieder auf den Bildschirm seines Laptops. Er erwartet neue Nachrichten aus Belarus. Erscheinen sie ihm glaubhaft, tippt er sie ein in einen Kanal eines Messengerdienstes. Er ist in Belarus noch abrufbar, wenn die Behörden mal wieder das Internet lahmlegen. „Kastus Kalinouski“ist sein Kampfname im digitalen Äther. Der Mann Anfang zwanzig hat sich als Synonym den Namen eines belarussischen Adeligen gewählt. Er ist unter den Gegnern von Alexander Lukaschenko derzeit in aller Munde. Der historische Kalinouski kämpfte während des Januaraufstands 1863 und 1864 im damals zum Zarenreich gehörenden Polen, Litauen und Belarus gegen die kaiserlichen Truppen Russlands. Er wurde 1864 in Vilnius von einem Henker des Zaren hingerichtet. In eben jener Stadt, die seit 1991 Hauptstadt des unabhängigen Litauens ist, sitzt sein Bewunderer seit den Präsidentschaftswahlen in Belarus vor seinem Laptop und bekämpft den Schlaf mit Energydrinks.
Die ersten Tage nach dem 9. August seien die Hölle gewesen, sagt er. „Wir haben Fotos gepostet, von denen, die im Okrestina-Gefängnis in Minsk gefoltert worden sind. Und je mehr wir die Nachrichten verbreitet haben, desto wütender schienen die Sicherheitskräfte zu werden. Sie haben das an den Gefangenen ausgelassen“, sagt er.
Kalinouski hält sich zurück mit Informationen über seine Widerstandsgruppe. Alle Internet-„Partisanen“hätten Familie in Belarus. Der Geheimdienst des Landes hat seinen Namen nach dem Ende der Sowjetunion 1991 nicht geändert und heißt KGB. Er soll Berichten von Lukaschenko-Gegnern zufolge in Polen bereits Oppositionellen nachstellen. Vilnius ist nur 40 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt.
Der Belarusse hat selbst Erfahrungen mit den Sondereinheiten Lukaschenkos gemacht. 2017 wagten er mit Hunderten Demonstranten in der belarussischen Hauptstadt Minsk und anderen Städten auf die Straße. Die Regierung hatte eine Sondersteuer für Arbeitslose verhängt. „Über die Vorbeugung des Sozialschmarotzertums“nannte sich das Dekret. Kalinouski wurde verhaftet, stand seiner Erzählung zufolge stundenlang mit gefesselten Händen zur Wand. „Als sie mich freiließen, bin ich abgehauen nach Litauen“, sagt er.
Heute studiert er wie viele seiner Mitstreiter an der „Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität“. Das verrät er, weil an der sich als Exil-Universität für Belarussen verstehenden Hochschule 1600 Studierende eingeschrieben sind. Es gebe auch heute Schmuggelrouten für Verfolgte über die grüne Grenze nach Litauen, meint Kalinouski.
Der Belarusse ließ in Minsk ein Leben zurück, dass im System Lukaschenko hätte funktionieren können. Er konnte studieren und bezeichnet seine Familie als nicht reich, aber auch nicht arm. „Ich hatte genug Geld und konnte chillen“, meint er. Nicht arm, nicht reich, das galt bis vor wenigen Jahren als Markenzeichen des von Alexander Lukaschenko geführten Landes. Die modernsten Betriebe besonders in der Traktorenindustrie befanden sich 1991 auf dem Territorium der früheren belarussischen Sowjetrepublik. Belarus erhielt lange Öl und Gas von Russland zu Sonderpreisen. Lukaschenko förderte den IT-Sektor im Land. Computerspiele, die Gamer auf der ganzen Welt begeistern, werden in Belarus entwickelt. Internatinale Firmen wie der Messengerdienst Viber ließen sich wegen günstigen Bedingungen und dem guten Ruf der belarussischen Entwickler in Minsk nieder.
„Batka“, „Väterchen“verteilte den bescheidenen Wohlstand im Land gleichmäßig. Er ließ nicht zu, dass Einzelne als Oligarchen wie in Russland oder der Ukraine reich und mächtig wie irdische Götter wurden. Aus Russlands Sicht verstand sich Lukaschenko aber auf das Nehmen und nicht auf das Geben. Er verweigerte sich einer weiteren Integration der seit 1999 bestehenden Union zwischen Russland und Belarus. Russland drosselte die Öl- und Gassubventionen. „Batka“blieb immer weniger übrig, um das Volk von seiner Milde zu überzeugen. Kastus Kalinouski gehörte zu jenen, die 2017 gegen die Strafen für Arbeitslose protestierten. Als Studierender war er selbst kaum betroffen von dem Dekret. Es gibt für sie Jobs im boomenden IT-Sektor des Landes. „Wir haben Talente, können uns aber nur bis zu einem gewissen Punkt entfalten. An die Spitzen kommt nur, wer Beziehungen zum Apparat hat“, sagt er.
In einem neuen Land in den Farben Weiß und Rot statt Grün unter Lukaschenko und zu Sowjetzeiten. Jeden Tag werden die weiß-roten Fahnen gegenüber der rot-grün beflaggten belarussischen Botschaft in Vilnius geschwenkt. Die Belarussin Tatsiana Chulitskaya und ihre litauische Freundin Irmina Matonyte nehmen regelmäßig an den Kundgebungen teil. „Sprecht ihr nicht von Schicksalsgemeinschaft? So ist es zwischen Belarussen und Litauern“, sagt Matonyte. Belarus kämpfe für seine Unabhängigkeit – so wie Litauen 1991. „Natürlich unterstützen wir das, weil Russland so an Einfluss verliert. Und Russland bedroht uns ja immer noch“, sagt die Litauerin. Bilder von den jüngsten Protesten in Minsk auf dem Messengerdienst Telegram oder Facebook-Seiten wie „Infocenter Belarus“zeigen, dass Demonstranten Russland durchaus als ihren Gegner betrachten. Statt an Lukaschenko ergeht nun auf vielen Plakaten an Wladimir Putin die Aufforderung, aus Belarus „abzuhauen“.
Der litauische Politikexperte Marius Laurinavicius, ehemaliger Nachrichtensprecher und Russland-Experte der Denkfabrik Vilnius Institute for Policy Analysis, glaubt, dass Russland das von den Protesten angefachte Nationalgefühl der Belarussen mit wachsender Sorge sieht. Er betont, wie entscheidend Belarus für Russland sei. Die belarussische Grenze liegt nur 100 Kilometer von der russischen Exklave Kaliningrad entfernt. Der sogenannte SuwalkiKorridor ließe sich von Belarus und Kaliningrad aus im Handstreich besetzen. Russland könnte im Konfliktfall so auch das Baltikum von NATONachschub aus Polen abriegeln. Lukaschenko wisse um die strategische Bedeutung seines Landes, meint der Litauer.
Er entschied sich, Russland an die Parade zu fahren und ließ vor der Wahl am 9. August neben anderen Kandidaten auch den moskaufreundlichen Viktor Babariko festnehmen. Der in Russland erfolgreiche Geschäftsmann hätte Lukaschenko nicht besiegen, ihm aber einen deutlichen Wahlsieg vermiesen sollen, vermutet Laurinavicius. Lukaschenko sei aber nicht bereit gewesen, die Wange für Putins Ohrfeige hinzuhalten. Nachdem sich Babarikos Lager hinter Swetlana Tichanowskaya, die Ehefrau eines weiteren, inhaftierten Präsidentschaftskandidaten, stellte, manipulierte Lukaschenko die Wahl am 9. August in aller Deutlichkeit zu seinen Gunsten.
Der im Eifer entfachte weiß-rote Enthusiasmus und die Anklänge an ein mit Polen und Litauen, statt mit Russland verbundenes Belarus, ließen die Alarmglocken in Moskau schrillen. „Die Russen müssen diese Gespenster einfangen“, glaubt Laurinavicius. Offenbar habe die Dynamik der Straße Russland davon überzeugt, an Lukaschenko als kurz- bis mittelfristige Lösung festzuhalten. Das legt der jüngste Kredit Russlands in Höhe von 1,5 Millliarden Dollar an den klammen Machthaber in Minsk nahe. Russland müsste nicht einmal Truppen schicken, um weiteren Aufruhr in Belarus zu ersticken. „Die belarussische Armee ist in die russischen Streitkräfte integriert “, sagt Laurinavicius. Lukaschenko müsste dann früher oder später den Amtsstab an einen Moskau treuen Nachfolger übergeben. „Das wäre der Preis für ihn“, so Laurinavicius.