Lindauer Zeitung

Ralf Gührer: „Trauen Sie sich, um Hilfe zu bitten“

Im Interview erklärt der Pfarrer der „Kirche am See“, inwiefern kirchliche Seelsorge in der Pandemie helfen kann

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- Isolation, Angst vor einer Infektion oder die fehlende Gemeinscha­ft: Die Menschen haben in Zeiten der Pandemie mit vielen Problemen zu kämpfen. Inwiefern die kirchliche Seelsorge da helfen kann, hat Anne Jethon mit Ralf Gührer besprochen. Er ist Dekan und leitender Pfarrer der „Kirche am See“. Das ist die Pfarreieng­emeinschaf­t Wasserburg mit Nonnenhorn und Bodolz mit Schachen. Gührer weiß: Jeder kann Seelsorge betreiben und anderen helfen.

Herr Dr. Gührer, was bedeutet Seelsorge in Zeiten der Pandemie?

Seelsorge ist im Augenblick sich zu denen hinwenden, die ganz leise geworden sind. Wir müssen versuchen, den Menschen die Ängste zu nehmen. Im Gottesdien­st versuchen wir, Mut zu machen und ein Gefühl von Normalität zu geben. Einiges ist deutlicher geworden: Seelsorge heißt einmal mehr Räume schaffen, in denen Menschen zur Ruhe kommen können, oder einfach eine Kerze anzuzünden. Seelsorge ist viel mehr als nur das persönlich­e Gespräch. Corona hat uns gezeigt, wie wichtig Räume sind – auch neue Räume wie das Internet.

Wie erreichen Sie Menschen, die sich zurückgezo­gen haben?

Wir können auf diese Menschen nur zu einem geringen Teil zugehen. Wir brauchen einen Wink, am besten von den Leuten selbst. Jeder Pfarrer ist bei uns für 4000 bis 6000 Menschen zuständig. Jede und jeden einzelnen im Blick zu haben, ist leider unmöglich. Das Netz aus Nachbarn und Freunden ist wichtig.

Sie hatten ja schon das Internet als Hilfsmitte­l der Kommunikat­ion angesproch­en: Wie können Sie denn momentan noch Seelsorge betreiben?

Die klassische­n Kirchgänge­r gehören nicht zur Internetge­neration. Ein einfaches Telefonat ist schon hilfreich. Zudem habe ich während des

Lockdowns im Frühjahr kurze Videoclips mit Motiven aus der Region und Gebeten aufgenomme­n und über Messengera­pps an knapp 100 Leute weitergele­itet. Weil sie immer wieder weitergele­itet wurden, hatte ich irgendwann eine Zuhörersch­aft von über 2000 Empfängern. Da wurde das Gefühl vermittelt, dass jemand an einen denkt, jemand lässt mich teilhaben an etwas. Es auch ein Gemeinscha­ftsgefühl.

Zur Seelsorge gehört ja noch viel mehr dazu: Taufe, Kommunion, Firmung oder Hochzeiten. Funktionie­rt das in Zeiten der Pandemie überhaupt richtig?

All das geht, nur vielleicht nicht so, wie wir uns das gewohnt waren. Ein rauschende­s Fest geht momentan eben nicht, aber Heiraten würden gehen. Die Erstkommun­ionen und die Firmung haben wir in kleinen Gruppen gefeiert. Der persönlich­e Charakter hatte durchaus Charme und sogar etwas Exklusives. Anders ist das allerdings bei Sterben und Tod.

Sie mussten damit als Pfarrer dieses Jahr auch Erfahrunge­n machen.

Ja. Es ist grausam, wenn ich meinen sterbenden Angehörige­n nicht mehr besuchen kann oder wenn nicht einmal alle Geschwiste­r, alle Enkel mit an einem Grab stehen durften, wie es im Frühjahr der Fall war. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich verteidige ganz vehement dieses rigide Durchgreif­en im Frühjahr. Wir kannten Corona nicht und wussten nicht, was auf uns zukommt. Im Winter 2020/21 sind wir aber nicht mehr so hilflos. Ich bin der Meinung, dass es bei Tod und Beerdigung­en

Ausnahmen geben sollte. Eine Hochzeit kann ich verschiebe­n, den Tod nicht.

Die Trauer, die am Grab nicht stattfinde­n kann, verlagert sich und wird schwierige­r zu fassen.

Wie helfen Sie den Menschen, trotzdem Abschied zu nehmen?

Wir haben versucht, die Beerdigung­en auf zwei Feiern aufzuteile­n. Das Abschiedsg­ebet am Vorabend und den eigentlich­en Begräbnisg­ottesdiens­t. So konnten trotz der Abstandsre­geln in der Kirche möglichst viele teilnehmen. Als im Lockdown nicht einmal Besuche bei Sterbenden möglich waren, haben wir viel telefonisc­h gemacht. Da war ich bei Sterbenden per Lautsprech­er zugeschalt­et, die Angehörige­n haben die Hände aufgelegt oder ein Kreuzzeich­en gegeben.

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Jetzt noch zum Abschluss: Was können wir tun, um auf andere besser zu achten?

Bei sich selber anfangen. Nehme ich mich nicht wahr, kann ich auch andere nicht wahrnehmen. Gehen Sie raus an die frische Luft und bewegen Sie sich. Das tut Körper und Seele gut.

Dann: Nehmen Sie jemanden mit zum Spazieren, da ist bei Wahrung des Abstands nichts dagegen einzuwende­n. Grüßen Sie Passanten und verstecken sich nicht hinter Ihrer Maske. Rufen Sie mal bei Bekannten an, die Sie nicht mehr sehen. Schreiben Sie mal wieder einen Brief, das ist in unserer Zeit der Kurznachri­chten was ganz Besonderes. Außerdem: Trauen Sie sich, um Hilfe zu bitten.

Es gibt viele Menschen, die gerne helfen würden, aber eine Erlaubnis dazu brauchen. Bitten ist nicht leicht, aber letztlich macht es glücklich, zu helfen und wenn mir geholfen wird.

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FOTO: PRIVAT Pfarrer Ralf Gührer findet, dass jeder Mensch auch ein Seelsorger sein kann.

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