Der versandete Traum
Bisher hat Sandra Lüpkes für Urlaubslektüre gesorgt. Sie schrieb Nordsee-Krimis wie „Die Sanddornkönigin“und herzige Geschichten über „Das kleine Inselhotel“. Aber in diesem Jahr präsentierte die Autorin einen historisch und politisch relevanten Gesellschaftsroman, der Dichtung und Forschung auf die spannendste Weise verbindet. „Die Schule am Meer“hat über 500 Seiten und liest sich mühelos. Man vergisst bei der Lektüre den Lockdown-Blues.
Wer die ostfriesische Insel Juist kennt, ist sicher mal über den nach Otto Leege benannten Pfad gewandert und hat gehört, wie dieser Umweltschützer und Pädagoge schon vor 100 Jahren für die Vögel der Nordsee sorgte und ein Wäldchen anpflanzte, das dem Sturm bis heute trotzt. Nur wenige wissen, dass es in den 1920er-Jahren auch eine vielfach beachtete Reformschule auf der Insel gab. Das Internat lag mitten in den Dünen, wo engagierte
Lehrer aus blassen Stadtkindern naturverbundene Demokraten machten – bis die Nazis die Welt vergifteten. Davon erzählt Sandra Lüpkes.
Ihre Heldin ist Anni Reiner, die aus einer jüdischen Unternehmerfamilie stammt und 1925 mit drei Töchtern nach Juist zieht, um ihren Mann Paul Reiner bei seinem Schulprojekt zu unterstützen. Als Musiklehrer steht ihm Eduard Zuckmayer zur Seite, der Bruder des berühmten Schriftstellers. Denn es gibt, von den Insulanern misstrauisch beäugt, nicht nur gymnasiale Bildung und das rituelle „mystische Bad“in der Nordsee, sondern auch Konzerte und Theater in rauer Natur. Ein packendes Inselabenteuer – und zugleich ein Spiegel der Weimarer Republik, die von der Gewalt besiegt wird.
Sandra Lüpkes: Die Schule am Meer. Roman. Kindler. 576 Seiten. 22 Euro.