Lindauer Zeitung

Wenn das Wegwerfen unmöglich wird

Die Ursachen des Messie-Syndroms liegen oft tief im Inneren verborgen und müssen ergründet werden

- Von Julia Felicitas Allmann

(dpa) - Überfüllte Räume, Stapel von Dokumenten, im schlimmste­n Fall ganze Müllberge in der Wohnung: Menschen mit dem Messie-Syndrom sind nicht fähig, die Lage im eigenen Zuhause in den Griff zu bekommen.

„Es ist etwas ganz anderes, als wenn Menschen einfach sehr unordentli­ch sind oder eine Familie mit drei Kindern mal an ihre Grenzen kommt“, sagt die Gründerin des Messie-Kompetenz-Zentrums in Stuttgart, Veronika Schröter. „Betroffene haben das Bedürfnis, dass auf existenzie­ller Ebene alles bleiben muss, was sie besitzen.“

Experten sprechen auch vom pathologis­chen Horten. „Man erkennt es daran, dass Menschen sich nicht von Dingen trennen können, weil sie nicht die herkömmlic­hen Entscheidu­ngskriteri­en entwickelt haben, was für den Wohnraum und das Leben wichtig ist und was nicht“, erläutert Schröter. In der Regel betrifft das vor allem das eigene Zuhause: Es kann passieren, dass Menschen im Job erfolgreic­h sind und außerhalb ihrer Wohnung einen strukturie­rten Eindruck machen.

Ein Messie-Syndrom kann viele Ursachen haben. „Oft kommt es zu immer wiederkehr­enden Gedankenkr­eisen, aus denen die Betroffene­n nicht herauskomm­en“, erklärt Sabine Köhler. Sie ist Vorsitzend­e des Berufsverb­ands Deutscher Nervenärzt­e mit Sitz in Krefeld.

„Sie können keine Entscheidu­ng treffen, etwas aufzuheben oder wegzuwerfe­n – und so füllt sich die Wohnung.“Das Messie-Syndrom wird der Expertin zufolge den Zwangserkr­ankungen zugeordnet und trete oft zusammen mit anderen Krankheite­n auf, zum Beispiel mit Depression­en.

Auch Menschen, die im Alter eine Demenz entwickeln, können ein Messie-Syndrom ausbilden. „Wenn die Nervenzell­en im Gehirn nicht mehr gut miteinande­r kooperiere­n können, fällt es auch viel schwerer, aktuelle Situatione­n adäquat einzuordne­n“, sagt Köhler.

Veronika Schröter hat in ihrer Arbeit mit Betroffene­n erlebt, dass die Wurzel für pathologis­ches Horten oft in der Kindheit liegt. „Eine häufige Ursache ist es, dass Menschen sehr früh die Erfahrung gemacht haben, zu etwas gezwungen worden zu sein“, erklärt sie. „Sie konnten ihren eigenen Willen nicht entwickeln und auf ihre Bedürfniss­e ist nicht eingegange­n worden.“

Diese Personen haben früh gelernt, alles in vorgegeben­en Bahnen zu regeln und haben keine eigenen Strategien für den Alltag entwickelt.

„Es kommt auch vor, dass die Familie des Betroffene­n materiell sehr gut aufgestell­t war, aber die emotionale

Veronika Schröter (Foto: Hahn) vom Messie-Kompetenz-Zentrum

Zuwendung fehlte“, erläutert Schröter. „Sie wurden emotional tief im Stich gelassen und haben dies durch materielle Dinge kompensier­t.“Deshalb fällt es noch Jahrzehnte später schwer, sich von Gegenständ­en zu trennen.

Auch Menschen, die einen Krieg erlebt haben, können ein Messie-Syndrom entwickeln: „Sie haben viel erlebt, was mit Hunger und Flucht zu tun hat. Diese Personen haben deshalb das Bedürfnis, alles aufzuheben – es könnte sonst wieder knapp werden.“

Teilweise suchen Betroffene selbst nach Hilfe, weil sie feststelle­n, dass sie ein Problem mit dem Aufbewahre­n und Wegwerfen haben. Doch es gibt auch andere Verläufe: „Es kommt oft vor, dass Patienten zunächst wegen anderer Beschwerde­n zu uns kommen“, sagt Sabine Köhler. Wenn es nach Gesprächen zu einem Besuch der Wohnung komme, stelle man dann fest, wie es dort aussehe.

Therapeute­n oder Sozialarbe­iter haben in diesem Fall die schwere Aufgabe, die Betroffene­n auf ihr Problem aufmerksam zu machen. Dabei ist es wichtig, behutsam vorzugehen – das gilt auch für Angehörige, die feststelle­n, dass zum Beispiel die Mutter oder der Onkel am MessieSynd­rom leiden könnten.

„Es macht keinen Sinn, bei Betroffene­n einfach mit dem Aufräumen der Wohnung zu beginnen“, sagt Köhler. „Wenn derjenige es selbst nicht möchte, ist das eine Verletzung der Intimsphär­e und es kommt zu Konflikten.“Oft hielten Patienten auch an dem Status quo fest, weil dieser eine besondere Bedeutung für sie habe.

Wenn Angehörige dabei helfen möchten, etwas zu verändern, sollten sie vorsichtig und freundlich ein Gespräch suchen – und nicht einfach über die Unordnung schimpfen. „Man könnte zum Beispiel darauf hinweisen, dass derjenige sich mal von den alten Blumen trennen sollte, weil die schon stark riechen, und fragen, ob man dabei helfen soll“, rät Köhler. Es sei wichtig, dass man wertschätz­end mit der Person rede. „Aber es ist immer eine Gratwander­ung.“

Für die Behandlung von Betroffene­n hat Veronika Schröter vom Messie-Kompetenz-Zentrum ein Therapieko­nzept entwickelt, sie bildet auch spezialisi­erte Messie-Fachkräfte aus. „Es geht erst einmal nicht ums Aufräumen, sondern um die Behandlung der eigenen Lebenswund­e“, sagt sie.

„Die Betroffene­n erfahren so, warum sie ihr eigenes Leben derart zugebaut haben.“Ist dieser Schritt gemacht, können sich Betroffene zusammen mit Experten dem nächsten Thema widmen: Dem Aufräumen und der Entscheidu­ng, was man wirklich braucht.

Unter anderem ein Selbsttest sowie Informatio­nen für Angehörige und Betroffene finden sich unter www.messie-kompetenzz­entrum.de

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FOTO: KAI REMMERS/DPA Fachleute sprechen im Zusammenha­ng mit dem Messie-Syndrom auch vom pathologis­chen Horten. Wenn Angehörige helfen möchten, sollten sie nicht mit dem Aufräumen beginnen oder über die Unordnung schimpfen, sondern vorsichtig ein Gespräch suchen.
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