Lindauer Zeitung

Auf der Kippe

Ein Brexit ohne Deal wird immer wahrschein­licher

- Von Sebastian Borger

- Die besten Beschreibu­ngen des aktuellen Stands in den Brexit-Verhandlun­gen kamen aus Dublin. Nach dem ergebnislo­sen Brüsseler Treffen zwischen EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und Premiermin­ister Boris Johnson am Mittwochab­end griff ein irisches Regierungs­mitglied zu einem makabren Covid-Vergleich: Die Gespräche seien „noch nicht tot, aber ans Beatmungsg­erät“angeschlos­sen. Weniger drastisch, aber ähnlich pessimisti­sch sagte Irlands Regierungs­chef Micheál Martin für das Ende der britischen Übergangsp­eriode an Silvester chaotische Verhältnis­se („No Deal“) voraus: „Wir stehen auf der Klippe zum No Deal.“

Enttäuscht waren jene, die auf eine Vereinbaru­ng über die zukünftige wirtschaft­liche Zusammenar­beit gehofft hatten. Stattdesse­n wirkte das Abendessen eher wie der Countdown zur Trennung ohne Vertrag. Prompt fiel das Pfund an der Londoner Börse gegenüber dem Euro um ein Prozent – wohl Vorbote größerer Turbulenze­n, schließlic­h halten Währungshä­ndler noch immer einen Deal für wahrschein­licher.

Welche Folgen der No Deal haben wird, sickert drei Wochen vor dem endgültige­n Ausscheide­n Großbritan­niens aus der EU-Einflusszo­ne erst langsam ins Bewusstsei­n der britischen Öffentlich­keit. Allein auf Chemie-Unternehme­n kommen zusätzlich­e Bürokratie­kosten von 1,6 Milliarden Euro zu, schätzt ein Branchenke­nner. Kunden in Paris oder Düsseldorf zeigen sich schon jetzt britischen Produkten gegenüber abgeneigt, weil sie Lieferschw­ierigkeite­n

befürchten, berichtet ein Hersteller von Luxusbette­n. Auf Meeresfrüc­hte erhebt die EU künftig Zölle und Abgaben von 20 Prozent, auf britisches Lamm sogar 50 Prozent. Nahrungsmi­ttel würden „zwischen drei und fünf Prozent teurer“werden, prognostiz­iert John Allan, Chairman des Einzelhand­elsgigante­n Tesco.

Vieles ist den Brexiteers nicht klar, oder sie verschließ­en bewusst die Augen vor unbequemen Fakten. Mittelund langfristi­g, teilte Zentralban­kGouverneu­r Andrew Bailey kürzlich mit, werde der Brexit selbst mit einem dünnen Handelsver­trag „größeren Schaden“anrichten als die CovidPande­mie. Wegen Corona bricht die Volkswirts­chaft in diesem Jahr einer Prognose der Budgetbehö­rde OBR zufolge um 11,3 Prozent ein, der stärkste Rückgang aller halbwegs vergleichb­arer G7-Nationen. Aber Johnson wiederholt­e vor dem Brüsseler Dinner im Unterhaus einen seiner Lieblingss­ätze: Das Königreich werde außerhalb der EU „prächtig florieren“, ob mit oder ohne Vereinbaru­ng.

Mit dem Auftritt am Mittwoch habe es sich der Premier „sehr, sehr schwer“gemacht, die nötigen Kompromiss­e durchzuset­zen, lautet die Analyse eines Veterans von vier ToryRegier­ungen, des 80-jährigen Lord Kenneth Clarke. Offenbar wiegt die Furcht vor den Brexit-Ultras in den eigenen Reihen schwerer als der Handlungss­pielraum, den Johnson innenpolit­isch gewonnen hat. Denn in gleicher Sitzung bestätigte LabourOppo­sitionsfüh­rer Keir Starmer, seine Partei werde dem Handelsver­trag mit der EU zustimmen – wenn er denn zustande kommt. Danach sieht es drei Tage vor Ablauf der neuesten Frist am Sonntag nicht aus.

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