Das ersehnte Finanzpaket steht
Polen und Ungarn geben ihr Veto auf – Dafür wird die Rechtsstaatsklausel juristisch geprüft
- „Deal!“twitterte Ratspräsident Charles Michel kurz vor dem Abendessen der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstagabend. „Nun können wir damit beginnen, unsere Wirtschaft wieder aufzubauen.“Das Finanzpaket von insgesamt 1,8 Billionen Euro werde dazu dienen, den grünen und digitalen Umbau voranzubringen. Die Erleichterung war den Zeilen anzumerken. Über Stunden war nämlich unklar, ob der von Deutschland eingefädelte Kompromiss wirklich zustande kommen würde.
Wenige Tage vor Ende ihres Halbjahres kann sich die deutsche Ratspräsidentschaft nun dazu beglückwünschen, den neuen „Rechtsstaatsmechanismus“durchgesetzt zu haben, ohne die Einheit der EU aufs Spiel zu setzen. Die Haushaltsplanung für die kommenden sieben Jahre und der Hilfsfonds, der die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abmildern soll, stehen pünktlich zum Jahreswechsel bereit. In einer für ihn typischen Volte spricht Ungarns Regierungschef Viktor Orbán von „einem Sieg des gesunden Menschenverstandes“.
Exakter wäre wohl, von einem Sieg deutscher Spitzendiplomatie, gepaart mit starken Nerven zu sprechen. Als Michael Clauß, deutscher EU-Botschafter in Brüssel, vor zwei Wochen in ungewöhnlich offenen Worten davon sprach, dass einige Länder den EU-Haushalt und den Corona-Fonds als Geisel nähmen, um den ihnen äußerst suspekten Rechtsstaatsmechanismus zu verhindern, war das schon ein Affront an sich. Als er dann im Kreis der Botschafter eine
Kampfabstimmung über die Rechtsstaatsklausel ansetzte, statt sich auf den sonst üblichen Kanälen um eine einstimmige Entscheidung zu bemühen, war das eine Kampfansage Richtung Ungarn und Polen.
Da für den Rechtsstaatsmechanismus die erforderliche qualifizierte Mehrheit zustande kam, blockierten Ungarn und Polen die Haushaltsverhandlungen. Diese können nur einstimmig zum Abschluss gebracht werden. Natürlich sägten sie dabei auch an dem Ast, auf dem sie selbst sitzen, denn sowohl die Corona-Hilfen als auch EU-Fördergelder werden in Osteuropa dringend benötigt. Um den Druck zu erhöhen, begannen sowohl die EU-Kommission als auch die Ratsspitzen laut über Alternativen nachzudenken, sollten Ungarn und Polen ihr Veto gegen den EUHaushalt und den Corona-Fonds nicht aufgeben.
Wie wenig Verständnis selbst Landsleute dafür aufbringen, dass ihre Regierung den Geldfluss blockierte, zeigte sich in einem offenen Brief an EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen. Neben den Spitzen der italienischen, deutschen und französischen Industrieverbände hatte auch Maciej Witucki, Präsident des polnischen Unternehmerverbandes Lewiatan, den Brief unterzeichnet. Polens Premierminister Mateusz Morawiecki warb vor dem Gipfel nochmals um Verständnis für die Haltung seiner Regierung. Es müsse klar sein, wo die „Demarkationslinie“verlaufe „zwischen Haushaltskontrolle und den zugehörigen Antikorruptionsbestimmungen, die wir vollkommen unterstützen, und allen Rechtsstaatsbestimmungen, die klar in den Verträgen geregelt sind und den dort vorgesehenen Prozeduren entsprechend behandelt werden sollten“. Mische man beides, könnten Länder aus politischen Motiven benachteiligt werden – heute treffe es Polen, morgen schon könnte Portugal, Italien, Frankreich oder Österreich am Pranger stehen.
Diese Sorge soll nun durch eine Zusatzerklärung ausgeräumt werden. Danach kann der Rechtsstaatsmechanismus erst in Kraft treten, wenn der Europäische Gerichtshof ein Gutachten dazu erstellt hat und die EUKommission dazu passende Leitlinien beschlossen hat. Insider fürchten, dass diese Prozedur nicht abgeschlossen sein dürfte, wenn Ungarn 2022 die nächste Parlamentswahl durchführt. Der Fraktionschef der Konservativen im Europaparlament, der CSU-Abgeordnete Manfred Weber, warnte am Donnerstag schon einmal vorsorglich gegen derartige Verschleppungstaktiken. „Die politische Erklärung des Rates ist rechtlich nicht bindend, der Rechtsstaatsmechanismus aber schon. Deshalb erwarten wir von der EU-Kommission, dass sie ihn dem Buchstaben des Gesetzes getreu ab dem 1. Januar 2021 anwendet.“