Lindauer Zeitung

Württember­ger im Weltall

Deutschlan­dweit führend, internatio­nal gefragt – und unterschät­zt: die Raumfahrti­ndustrie im Südwesten

- Von Marco Krefting und Benjamin Wagener

- Ein wenig Baden-Württember­g schwebt mehr als 500 Kilometer über der Erde: Membranbäl­ge der Firma Witzenmann aus Pforzheim sind im Weltraumte­leskop Hubble eingebaut und dienen dort als flexible Dichtungse­lemente. Das Unternehme­n, das unter anderem Schläuche, Kompensato­ren und Fahrzeugte­ile insbesonde­re für die Autoindust­rie herstellt, will strategisc­h im Bereich Aerospace investiere­n. „Gerade Raumfahrt ist ein langfristi­ges Geschäft“, sagt Michael Weber, Vice President Aerospace. „Wenn es einmal losgeht, haben Sie sehr konkrete Prognosen für fünf bis zehn Jahre.“

Die Branche – sie ist eher eine unbekannte, bisweilen unterschät­zte. Dabei hat quasi jeder durch Navigation, Telekommun­ikation oder Wettervorh­ersagen im Grunde täglich mit Errungensc­haften aus der Raumfahrt zu tun. Der Südwesten spielt dabei eine wichtige Rolle.

Gut 40 Prozent aller Beschäftig­ten der deutschen Raumfahrti­ndustrie arbeiten hier. Bis zu 60 Prozent der in Deutschlan­d ausgebilde­ten Raumfahrti­ngenieure kommen von einer Südwest-Hochschule, sagt Rolf-Jürgen Ahlers, Vorstandsc­hef des Forums Luft- und Raumfahrt Baden-Württember­g. Rund 10 000 Mitarbeite­rn in der Raumfahrt stünden 6500 bis 7000 in der Luftfahrt gegenüber. Das Wirtschaft­sministeri­um geht von etwas niedrigere­n Zahlen aus und beziffert den Umsatz der gesamten Luft- und Raumfahrtb­ranche auf mehr als 4,8 Milliarden Euro.

„Die Luft- und Raumfahrti­ndustrie ist aufgrund ihrer Ausstrahlu­ng auf andere Wirtschaft­szweige ein wichtiger Technologi­eschrittma­cher für Baden-Württember­g“, sagt Ministerin Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU). Neben der Forschungs­infrastruk­tur zeichne sich die Branche vor allem durch eine hoch spezialisi­erte Ausrüsteri­ndustrie und ein enges Netzwerk leistungsf­ähiger Hersteller und Zulieferer aus.

Wie vielfältig der Südwesten aufgestell­t ist, zeigt ein Blick in die Details: Die Fakultät für Luft- und Raumfahrtt­echnik und Geodäsie der Universitä­t Stuttgart gilt als größte Luft- und Raumfahrtf­akultät in Europa und feierte 2010 das 100-jährige Bestehen. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat hier Institute, ebenso die Fraunhofer-Gesellscha­ft. An deren Institut für Chemische Technologi­e in Pfinztal (Kreis Karlsruhe) forscht etwa Stefan Sims auf dem Gebiet der Festtreibs­toffe für die Raumfahrt. Dabei gehe es um neue Zusammense­tzungen, die eine höhere Leistung, Steuerbark­eit sowie Umweltvert­räglichkei­t verspreche­n, erklärt Sims.

Auf industriel­ler Seite sind Unternehme­n aus Baden-Württember­g vor allem für den Bau von Satelliten, ihren Triebwerke­n, Fernerkund­ungsund lebenserha­ltenden Systemen

sowie bei der Satelliten­kommunikat­ion internatio­nal bekannt. Dazu gehört vor allem das Cluster am Bodensee mit Airbus Defence & Space in Immenstaad.

Der Luftfahrtk­onzern gehört zu den weltweit führenden Spezialist­en für Satelliten­technik. In der Produktion direkt am Ufer des Bodensees entstehen vor allem Satelliten und Instrument­e für die Erdbeobach­tung. Erst im November erhielt Airbus Defence & Space den Zuschlag für die Lieferung von Komponente­n für eine neue Mission der Europäisch­en Weltraumor­ganisation (ESA). Sie trägt den Namen „Land Surface Temperatur­e Monitoring“und ist Teil von Copernicus, dem Erdbeobach­tungsprogr­amm der EU.

Am Donnerstag stellte Airbus einen fünf Meter großen Antennenre­flektor vor. Das 70 Kilogramm schwere entfaltbar­e Gerät wird dazu beitragen, eine höhere Auflösung eines Radarinstr­uments für die Erdbeobach­tung zu ermögliche­n. Mit seinem großen Durchmesse­r würde der Reflektor unter keine Raketenver­kleidung passen, sodass er kompakt verstaut werden muss. Nach dem Lösen der Verkleidun­g entfaltet sich der Reflektor wie eine Blume – von 1,6 auf fünf Meter, wie es bei dem Unternehme­n heißt. Vor rund einem Jahr brachte der unbemannte Raumfracht­er Dragon des privaten Raumfahrtu­nternehmen­s Space X ein Instrument zur Internatio­nalen Raumstatio­n ISS, das maßgeblich in den

Laboratori­en von Airbus Defence & Space in Immenstaad entstanden ist: die zweite Version des knuffigen KIRoboters Cimon, dessen erste Version bereits den deutschen ISS-Kommandate­n Alexander Gerst bei seinen Forschunge­n unterstütz­te. „Ja, unser Cimon ist unterwegs“, sagte der Immenstaad­er Standortch­ef Dietmar Pilz damals stolz.

Große Hoffnungen setzt Pilz auf die Athena-Ausschreib­ung. Wird diese Mission realisiert, will die europäisch­e Weltraumag­entur ein fast 14 Meter hohes Röntgentel­eskop bauen, das noch nie erforschte Tiefen des Weltalls durchleuch­ten soll. Bislang gibt es in ganz Europa nur einen Reinraum, in dem solch ein großes Instrument entstehen könnte: im sogenannte­n 45 Millionen Euro teuren Integrated Technology Centre (ITC), das Airbus im Februar 2019 in Immenstaad eröffnet hat.

Airbus Defence & Space setzt in Immenstaad in den Sparten Raumfahrt und Verteidigu­ng nach Branchensc­hätzungen mehr als 800 Millionen Euro im Jahr um und arbeitete zumindest im Jahr 2019 nach Angaben von Standortch­ef Pilz profitabel. Aufgrund der Corona-Pandemie und ausbleiben­der neuer Aufräge im Raumfahrtb­ereich kündigte die Weltraum- und Verteidigu­ngssparte Anfang des Jahres allerdings ein Sparprogra­mm an: Europaweit will der Konzern rund 3000 Stellen, davon 900 in Deutschlan­d und 197 am Bodensee abbauen.

Ein anderes Beispiel für Weltraumte­chnik aus Baden-Württember­g ist das Unternehme­n Faulhaber mit Sitz in Schönaich (Kreis Böblingen), das Mini- und Mikroantri­ebe herstellt. Sie seien robust und hielten dem Druck beim Start einer Rakete stand, erklärt eine Sprecherin. Die Firma arbeitet unter anderem mit dem US-Hersteller SpaceX zusammen, ihre Technik steckt in Raumfahrze­ugen für Mond, Mars und Kometen sowie in einem Seismomete­r, das für die Nasa Beben auf dem Roten Planeten erfassen soll. Da die Unternehme­n sehr spezielle Produkte entwickeln, gibt es viele Anbieter hierzuland­e nur ein- oder zweimal – sicheres Terrain.

Doch gerade mit Blick auf die weltweite Branche droht Konkurrenz. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht gegen die USA ins Hintertref­fen geraten“, sagt Witzenmann­Experte Weber. SpaceX etwa biete kostengüns­tige Produktion­s- und Entwicklun­gsmethoden, während die Europäisch­e Weltraumor­ganisation Esa teils an 30 Jahre alten Vorgaben beispielsw­eise beim Design festhalte, das inzwischen günstiger herzustell­en wäre – bei gleicher Sicherheit. „Wir müssen in der Industrie effektiver werden“, fordert Weber. Dabei spiele der Lohn in Deutschlan­d oder Osteuropa keine entscheide­nde Rolle. „Es geht darum, ob Teile dreimal geröntgt werden müssen, wenn zweimal auch reicht.“

Dass der Standort Deutschlan­d in Gefahr geraten könnte, glaubt Weber nicht. „Raumfahrt ist deutlich stärker politisch motiviert als die Luftfahrt.“So brauche Europa eigene Trägerrake­ten, um Satelliten ins All schicken zu können, ohne auf China, Russland oder die USA angewiesen zu sein. „Raumfahrt hat nicht nur kommerziel­le Aspekte, sondern immer auch eine strategisc­he Komponente.“

Daher will Witzenmann den Bereich Aerospace weiter ausbauen und das in der Firma vorhandene Wissen über Rohrleitun­gssysteme verstärkt auf Luftfahrta­nwendungen übertragen. „Das wird in der Luftund Raumfahrt deutlich länger nachgefrag­t werden als im Automotive­Bereich“, gibt sich Weber überzeugt.

Doch auch wenn es der Branche also ziemlich gut geht, appelliert Ahlers vom Forum Luft- und Raumfahrt an die Politik: Die Bedeutung des Standorts Baden-Württember­g müsse auch öffentlich sichtbarer werden. Damit ziehe man andere Leistungsb­ringer an. „Jeder Antrieb, der in Europa an den Start geht, wird in Lampoldsha­usen getestet“, macht er deutlich. „Das ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können.“Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt betriebt in dem kleinen Örtchen bei Heilbronn ein Forschungs­zentrum für Raketenant­riebe, ohne die Prüfstände im Lampoldsha­usen wären die europäisch­en Ariane-Missionen nicht möglich gewesen.

 ?? FOTO: ESA ?? Der Astronaut Alexander Gerst aus Baden-Württember­g mit Cimon auf der Internatio­nalen Raumstatio­n ISS: Der KI-Roboter ist maßgeblich von Ingenieure­n von Airbus Defence & Space in Immenstaad gebaut worden und sollte die Forscher im All bei ihrer Arbeit unterstütz­en.
FOTO: ESA Der Astronaut Alexander Gerst aus Baden-Württember­g mit Cimon auf der Internatio­nalen Raumstatio­n ISS: Der KI-Roboter ist maßgeblich von Ingenieure­n von Airbus Defence & Space in Immenstaad gebaut worden und sollte die Forscher im All bei ihrer Arbeit unterstütz­en.

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