Rotter: Bahn macht den Quantensprung in Etappen
Der frühere CSU-Landtagsabgeordnete und Verkehrsexperte zur Elektrifizierung und zum neuen Bahnhof Reutin
- Ab Sonntag fahren die ersten Züge unter Strom durchs Allgäu und halten im neuen Reutiner Bahnhof. Ex-CSU-Landtagsabgeordneter Eberhard Rotter freut sich – weist aber im Interview mit Dirk Augustin darauf hin, was noch fehlt.
Welchen Stellenwert hat die Inbetriebnahme der Elektrifizierung und des Reutiner Bahnhofs aus Ihrer Sicht?
Das ist ein Quantensprung. Das gilt zunächst für die Schnellstrecke München-Zürich. Denn insgesamt muss man sagen, dass es ein Quantensprung in Etappen wird. Denn der Nahverkehr auf der Strecke wird erst in einem Jahr elektrisch, auch die elektrifizierte Südbahn wird erst am Ende des kommenden Jahres fertig. Und dann fehlen in Lindau noch Unterführungen und die neue Straße ins Giebelbachviertel, damit der geplante Zielfahrplan komplett möglich ist.
Was wird der neue Bahnknoten, wenn er denn in ein paar Jahren fertig ist, für Lindau bringen?
Wir werden damit deutlich mehr Fahrgäste auf die Schiene holen. Das liegt zunächst an der schnelleren Fahrt und an bequemeren Zügen. Die schnellen Verbindungen von Lindau nach München und Zürich und später auch nach Stuttgart sind ein wichtiges Stück Verkehrswende hier am Bodensee.
Nach jahrzehntelangem Streit haben sich Bahn AG und Stadt auf die sogenannte Zwei-Bahnhofs-Lösung geeinigt. Ist das aus Ihrer Sicht ein guter Kompromiss oder ein fauler Kompromiss?
Es ist ein Kompromiss, der gute Seiten hat, der aber nicht alles lösen kann. Es wird vor allem am Anfang für die Fahrgäste kompliziert, die genau prüfen müssen, wo sie ein-, ausund umsteigen. Das wird nicht immer ganz einfach, und da wird es auch verärgerte Fahrgäste geben. Denn die Züge aus Memmingen werden zuerst auf die Insel fahren und dann nach Reutin, während die Dieselzüge aus Kempten zuerst nach Reutin und dann auf die Insel fahren sollen. Es ist ja bekannt, dass ich am liebsten einen richtigen Hauptbahnhof in Reutin gehabt hätte und einen Inselbahnhof, den Nahverkehrszüge aus allen Richtungen, also aus Memmingen, Kempten, Friedrichshafen und Bregenz anfahren. Aber es gab andere Vorstellungen: Einige wollten nur einen Festlandsbahnhof, andere nur den Inselbahnhof. So war eben ein Kompromiss nötig. Alles in allem ist die Zwei-Bahnhofs-Lösung aber ein annehmbarer Kompromiss.
Wir haben es schon kurz angesprochen: Der Bahnknoten Lindau wird erst in ein paar Jahren voll leistungsfähig sein. Was fehlt denn noch?
Zunächst muss die Bahn im komStunden menden Jahr noch die Gleise von Aeschach auf die Insel elektrifizieren, denn bisher sind dort nur die Österreicher-Gleise unter Strom. Wichtig ist dann, dass es gelingt, möglichst schnell die Unterführung Hasenweidweg-Ost zu bauen und die neue Zufahrt ins Giebelbachviertel. Denn das Eisenbahnbundesamt hat festgelegt, dass erst dann alle Züge so fahren dürfen, wie es geplant ist, wenn eine schrankenlose Zufahrt in die Wohnviertel gesichert ist. Andernfalls würden ja auch Rettungswagen und Feuerwehr vor den deutlich länger als heute geschlossenen Schranken warten müssen. Die Bahn will das spätestens 2023 fertiggestellt haben, ich hoffe, es bleibt dabei.
Bei der Elektrifizierung gab es einen langen Streit, ob die Bahn AG besser die Strecke über Memmingen oder die über Kempten ausbauen sollte. Was halten Sie von der Lösung über Memmingen?
Unabhängig vom Streit der Wirtschaftszentren wäre die Strecke über Kempten leistungsfähiger gewesen, weil sie zweigleisig ist. Das hätte bei Verspätungen oder Zugkreuzungen weniger Probleme für andere Züge auf der Strecke bedeutet. Aber der Weg über Memmingen ist kürzer und hat weniger Steigungen, denn zwischen Kempten und Kaufbeuren müssen Sie auf etwa 900 Meter hoch. Ich meine, das wäre für moderne E-Loks kein Problem. Doch letztlich hat sich die Schweiz durchgesetzt, die den Ausbau ja mit finanziert. Die Schweizer wollten die kürzeste Strecke, um die Fahrzeit zwischen Zürich und München so kurz wie möglich zu halten. Das ist wichtig in Konkurrenz zum Flugverkehr. So hat man Ende der 90er-Jahre den Kompromiss geschlossen: Die Strecke über Memmingen bekommt den Fahrdraht, die Strecke über Kempten wird für Neigetechnik ausgebaut.
Die Politik spricht dennoch immer wieder über die Elektrifizierung der Kemptener Strecke. Glauben Sie, dass Sie dort noch unter Strom im Zug fahren können?
Natürlich bleibt die Elektrifizierung ein Thema. Ich fürchte aber, dass das nicht bis 2030 passieren wird, vielleicht dauert es bis 2040. Dann wäre ich mitten in den 80ern. Wenn ich das noch erlebe, freue ich mich auf elektrische Bahnfahrten auch über Kempten.
Heute sind Sie bekannt als jemand, der möglichst oft mit dem Zug fährt. Erklären Sie mal den Autofahrern, was am Zugfahren besser ist.
Ich fahre lieber mit dem Zug, weil ich da arbeiten oder entspannen kann. Beim Autofahren muss man sich auf den Verkehr konzentrieren und kann nicht etwas anderes tun. Bahnfahren ist umweltfreundlich. Und wenn der Zug für die Strecke LindauMünchen künftig weniger als zwei braucht, dann ist das mit dem Auto kaum zu schaffen – zumindest wenn Sie in München ins Zentrum wollen. Und dort steigen Sie entspannt aus oder haben die Zeit genutzt, um etwas zu schaffen. Und wenn Sie die Kosten betrachten – also die wirklichen Kosten der Autofahrt, nicht nur den Sprit – dann ist Bahnfahren, besonders wenn man Sparangebote nutzen kann, auch billiger als das Auto. Das kann sich jeder selbst ausrechnen, wenn er für die Autofahrt pro Kilometer 30 bis 35 Cent rechnet, wie es einer korrekten Berechnung entspricht.
Auf Anfrage der LZ nimmt auch CSU-Bundestagsabgeordneter und Entwicklungsminister Gerd Müller Stellung zur bevorstehenden Inbetriebnahme der elektrifizierten Strecke und des Reutiner Bahnhofs: „Die Elektrifizierung, zusammen mit den beiden Unterführungen und die Einweihung des Bahnhofes sind ein Jahrhundertereignis für Lindau. 20 Jahre war ich als örtlicher Abgeordneter mit dem Thema beschäftigt, und die Verhandlungen mit der Bahn haben viele Nerven gekostet. Der Bund, Bayern und die Schweiz haben letztendlich die Finanzierung gesichert.
Jetzt sollten wir uns gemeinsam zügig an ein Zukunftskonzept für das historische Bahnhofsgebäude und die Entwicklung der Hinteren Insel machen. Zusammen mit der neuen Inselhalle bieten sich der Stadt viele neue Chancen.“(dik)