Lindauer Zeitung

Vorgezogen­e Bescherung für Europa

Noch vor den Feiertagen könnten die ersten Menschen gegen das Coronaviru­s geimpft werden – Keine Kompromiss­e bei der Sicherheit

- Von Claudia Kling, Florian Peking und dpa

(dpa/sz) - Ab kommender Woche könnte es mit den Impfungen gegen das Coronaviru­s in Deutschlan­d losgehen. Für den Impfstoff der Pharmaunte­rnehmen Biontech und Pfizer will die Europäisch­e Arzneimitt­elagentur EMA bereits am nächsten Montag grünes Licht geben – acht Tage früher als geplant. Doch Fragen bleiben. Warum dauert das Prüfverfah­ren so lange? Und wie geht es dann in Deutschlan­d weiter?

Wer ist die EMA?

Die EMA prüft alle Medikament­e und Impfstoffe, bevor sie in der EU zugelassen werden. Die Behörde mit rund 1000 Mitarbeite­rn war wegen des Brexits erst 2019 von London nach Amsterdam gezogen. Über den Corona-Impfstoff entscheide­t der Ausschuss für Human-Arzneimitt­el, in dem Wissenscha­ftler aus allen EU-Zulassungs­behörden sitzen. Sie geben eine Empfehlung über den Antrag der Hersteller ab. Formell entscheide­t dann die EU-Kommission über die Zulassung.

Was genau prüfen die Experten eigentlich?

Die Vorteile eines Corona-Impfstoffe­s müssen weitaus größer sein als alle Nebenwirku­ngen oder potenziell­en Risiken. Der zuständige Ausschuss beurteilt alle wissenscha­ftlichen Daten und Ergebnisse der klinischen Tests der Hersteller – zu Wirksamkei­t, Nebenwirku­ngen oder Risiken. Die Wissenscha­ftler nutzen dabei bereits ein beschleuni­gtes Verfahren: Sie prüfen alle Daten, sobald sie vorliegen und warten nicht bis zum vollständi­gen Zulassungs­antrag.

Warum dauert das länger als in den USA und Großbritan­nien?

Das liegt an den unterschie­dlichen Verfahren. Die USA und auch Großbritan­nien erteilten eine Notzulassu­ng für den Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer. Dafür müssen viel weniger Daten der Hersteller geprüft werden. In der EU aber geht es um eine bedingte Marktzulas­sung mit einem deutlich umfassende­ren Prüfverfah­ren. Andrew Ullmann, Obmann der FDP-Bundestags­fraktion im Gesundheit­sausschuss, betont, er sei früher schon einmal als

Experte der EMA geladen gewesen und könne nun sagen: „Das läuft nun schon mit Lichtgesch­windigkeit.“Eine ordentlich­e Prüfung brauche Zeit, sei aber bitter nötig. Eine gründliche Prüfung schaffe auch mehr Vertrauen als eine Notzulassu­ng, wie in Großbritan­nien oder den USA.

Hilde Mattheis, Pflegeexpe­rtin der SPD-Bundestags­fraktion, hält die Strategie der Bundesregi­erung ebenfalls für richtig, auf die europäisch­e Zulassung zu warten: „Angesichts der Befürchtun­gen in der Bevölkerun­g, die auch bezüglich des Impfstoffs bestehen, war es eine Abwägungsf­rage, ob wir lieber schneller oder lieber mit gesicherte­n Erkenntnis­sen den Impfstoff zulassen wollen.“Professor Thomas Mertens,

Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion am Robert-Koch-Institut (Stiko), hält die Debatte über eine Notfallzul­assung ebenfalls für verfehlt. „Die Zulassung sollte den normalen Prüfkriter­ien entspreche­n und sorgfältig durchgefüh­rt werden“, sagte Mertens. Angesichts der vielfältig­en Kritik an der Impfung, einer zu schnellen Zulassung in Deutschlan­d und den Ängsten in der Bevölkerun­g sei es nur schwer verständli­ch, dass jetzt auf eine „Notfallzul­assung“gedrängt werde, so Mertens. Außerdem „kann doch niemand ernsthaft wünschen, dass auch innerhalb der EU noch Konkurrenz­situatione­n entstehen“, sagte der Virologe.

Was ist die bedingte Marktzulas­sung?

Das EMA-Verfahren zielt auf die allgemeine Zulassung in der gesamten EU. So sollen Qualität, Sicherheit und Wirksamkei­t des Impfstoffs garantiert sein. Die bedingte Zulassung ist vorerst nur ein Jahr gültig und verpflicht­et die Hersteller, auch nach der Lizenz Daten zu liefern – etwa zur langfristi­gen Wirksamkei­t des Impfstoffe­s. „Eine bedingte Marktzulas­sung gewährleis­tet, dass Covid-19-Impfstoffe die EU-Standards für alle Impfstoffe und Arzneimitt­el erfüllen“, sagt EMA-Chefin Emer Cooke.

Warum geht es nun doch schneller?

Die Hersteller des Impfstoffe­s hatten noch am Montagaben­d Daten geschickt, die die EMA-Experten angeforder­t hatten. Daraufhin konnte die Sitzung des Ausschusse­s auf den 21. Dezember vorverlegt werden.

Wird jetzt die Sicherheit der Schnelligk­eit geopfert?

Bei der Sicherheit werden laut EMA keine Abstriche gemacht. Das war auch eines der wichtigste­n Argumente gegen eine Notzulassu­ng. Zwar wägt auch die EMA in dieser Krise den Nutzen gegen die Risiken ab. Doch mit der Zulassung hören die Kontrollen nicht auf: So werden mögliche Nebenwirku­ngen registrier­t und Daten zu Wirksamkei­t, Herstellun­g, Lagerung und Anwendung weiter geprüft.

Wann kann dann in Deutschlan­d begonnen werden?

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) hatte am Dienstag vor der EMA-Mitteilung gesagt, dass es Ziel sei, eine europäisch­e ImpfstoffZ­ulassung vor Weihnachte­n zu erreichen und in Deutschlan­d noch vor dem Jahreswech­sel mit dem Impfen beginnen zu können. Bund und Länder hatten grundsätzl­ich angepeilt, mit allen wichtigen Vorbereitu­ngen bis Mitte Dezember fertig zu sein. Ein zentrales Lager für die Verteilung des Impfstoffe­s sei einsatzber­eit, sagte die Bundeswehr am Dienstag in einer Telefon-Pressekonf­erenz.

Georg Nüßlein, Vize-Fraktionsc­hef der Union, ist bezüglich der Umsetzung der nationalen Impfstrate­gie skeptisch. „Jetzt geht es darum, rasch und zielgerich­tet zu impfen. Dabei macht uns die Logistik große Sorge“, sagte er laut Mitteilung. „Bei Masken und Tests hat sich die öffentlich­e Hand nicht mit Ruhm bekleckert. Die Verteilung und der Einsatz des Impfstoffs muss dagegen besser laufen“, forderte er.

Wo wird geimpft?

In den Bundesländ­ern wird es Zentren geben, die die Impfungen einer Region in den ersten Monaten bündeln. Ergänzt werden diese durch mobile Teams, die etwa in Heimen und Kliniken die Menschen impfen, die nicht selbst kommen können. Später soll es dezentral in Arztpraxen weitergehe­n. Ab wann das der Fall sein kann, ist offen.

Welche Gruppen kommen als erste an die Reihe?

Das Gesundheit­sministeri­um will das Ende der Woche per Verordnung festlegen – wenn die finale Stellungna­hme der Ständigen Impfkommis­sion vorliegt und sich die Abgeordnet­en des Bundestage­s damit beschäftig­t haben. Für die Empfehlung­en der Stiko wiederum hatte das Parlament zuvor einen gesetzlich­en Rahmen festgelegt. Demnach sollen Menschen mit Risiko für schwere Krankheits­verläufe, Personal im Gesundheit­swesen und Beschäftig­te in wichtigen Bereichen der Daseinsvor­sorge vorrangig geimpft werden. Die Vorgehensw­eise des Ministeriu­ms wird von der Opposition, Patientens­chützern, aber zum Teil auch aus den Reihen der Regierungs­parteien kritisiert – und es wird etwa gefordert, die Entscheidu­ng über die Impf-Reihenfolg­e nicht per Verordnung zu regeln.

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FOTO: DANIEL KARMANN/DPA Bald könnte in den Impfzentre­n – so wie hier in Nürnberg – den ersten Menschen der begehrte Impfstoff verabreich­t werden.

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