Lindauer Zeitung

Mit dem Lineal zum Schriftste­ller geschlagen

„Abendspazi­ergang mit dem Kater“– Thomas Hürlimanns Einblicke in sein Leben

- Von Welf Grombacher

Thomas Hürlimann war Klostersch­üler im Stift Einsiedeln, als er mit anderen Zöglingen einen „Club der Atheisten“gründete. Wer Mitglied werden wollte, musste als Mutprobe während des Gottesdien­stes einen mit einer atheistisc­hen Botschaft beschrifte­ten Papierflie­ger aus der Kuppel hinunterse­geln lassen. Auf seinem stand: „Religion ist der Wille zum Winterschl­af, Nietzsche.“Das Entsetzen war groß. „Sie können sich vorstellen, wie dieser Satz in der frommen Wallfahrts­kirche einschlug.“

Mehrmals ist der 1950 in Zug geborene Schriftste­ller dem Tod knapp von der Schippe gesprungen. Nicht zuletzt deswegen ist er zum christlich­en Glauben zurückgeke­hrt. Botschafte­n auf Papier aber hat er ein Leben lang verfasst. Mit Büchern wie „Fräulein Stark“(2001) schrieb er sich ein in die Herzen seiner Leser. Im neuen Buch hält er jetzt Rückschau und lädt zu einem „Abendspazi­ergang mit dem Kater“. 24 Texte aus fast ebenso vielen Jahren enthält der Band. Geschichte­n, Essays, Zwischenru­fe. Fast alle sind in einem Buch oder in der Zeitung schon mal erschienen. Derartige Anthologie­n haben nicht selten etwas von einer Resterampe. Nicht so bei Thomas Hürlimann, der die Texte klug geordnet und sie motivisch durch neue Texte verknüpft hat, in denen er von seinem Kater beziehungs­weise von Katzen ganz allgemein erzählt – sagt man doch auch ihnen mehrere Leben nach. Entstanden ist so ein sehr persönlich­es Buch, das neue Einblicke gewährt.

Vierzehn ist Thomas Hürlimann, als er mit dem „Lineal zum Dichter geschlagen“wird. Einen „Stundenauf­satz“im Freien sollen die Schüler des Stifts schreiben und seiner über eine Baumgruppe ist so gut, dass Pater Walafried ihm nicht glauben will: „Wo hast du das abgeschrie­ben?“, fragt er immer wieder. Weil Thomas darauf beharrt, er stamme von ihm selbst, setzt es schließlic­h Schläge mit dem Lineal. Mit wenigen Strichen wird in dem schlicht mit „Schreiben“betitelten Text die Genese des Schriftste­llers nachgezeic­hnet und mit Humor nicht gespart – auch, wenn nicht immer alles zum Lachen war.

Ähnlich verfährt Hürlimann in seiner „religiösen Biografie“, wie er die autobiogra­fische Erzählung „Wir vom Club der Atheisten“nennt. Nach der ersten Beichte brennen Hochwürden Stöcklin die Sicherunge­n durch und er schleift den jungen Thomas an den Haaren durchs Zimmer, bis es blutet.

Thomas Hürlimann hat ein bewegtes Leben hinter sich; in „Meine Reise ins eigene Innere“berichtet er von seiner Krebserkra­nkung und der „labyrinthi­schen Unterwelt der Spitäler“, in „Berliner Madonna“von seinem Autounfall mit 1,2 Promille, den er nur um Haaresbrei­te überlebte. In einem liebevolle­n, etwas altertümli­chen und mitunter gemächlich­en Ton zeigt Hürlimann, was ihm wichtig ist.

Er erklimmt 1797 mit Goethe die Höhe des Schwyzer Hackens („Augenmensc­h und Hörnlimann“). Flieht mit Gottfried Keller vor den Feierlichk­eiten zu dessen 70. Geburtstag ins noble Grand Hotel Sonnenberg („Dämmerscho­ppen“). Oder reist mit Ehrengäste­n im Sonderzug zur 700-Jahrfeier der Eidgenosse­nschaft („Der Tunnel“) und stellt fest, dass sich zwar ein Speisewage­n an den anderen reiht, es aber nirgendwo eine Toilette gibt. Wie eine Art Lebensbila­nz mutet der Band an. Bei so manchem der Texte eröffnet sich durch die Neuzusamme­nstellung – und umspielt von Katzenpfot­en – eine neue Facette. Das Lesebuch eignet sich deswegen für die langjährig­en Leser dieses Schriftste­llers ebenso wie für Neueinstei­ger, die ihn erst noch entdecken wollen.

Thomas Hürlimann: Abendspazi­ergang mit dem Kater. S. Fischer, 304 Seiten, 24 Euro.

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FOTO: LARS REIMANN/IMAGO IMAGES Thomas Hürlimann

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