Fast ein Jahr Corona: Das hält die beste Psyche nicht aus
Psychiater Christian Peter Dogs über die psychologischen Auswirkungen der Krise – Und wie Weihnachten gelingt
- Angst vor Ansteckung, wirtschaftliche Nöte und eine gespaltene Gesellschaft: Corona belastet die Menschen schon seit fast einem Jahr. Nun überschattet es Weihnachten. Psychiater Dr. Christian Peter Dogs spricht im Interview mit Yvonne Roither und Julia Baumann über die psychologischen Folgen dieser langen Krise. Und darüber, wie dieses Weihnachten trotzdem das friedlichste Fest werden kann, das wir jemals hatten.
Herr Dogs, ich weiß, Sie mögen diese Frage nicht. Trotzdem: Wie geht es Ihnen?
(lacht) Ich mag diese Frage wirklich nicht, weil sie so eine Allerweltsfrage ist. Ich bin einer der wenigen, der Corona ziemlich gut übersteht, weil ich sozialphobisch bin und sehr introvertiert und zurückgezogen lebe. Mein Leben hat es also nicht beeinflusst. Was ich aber sehe ist, dass viele Menschen in meiner Praxis aufschlagen, die große Probleme damit haben: Ich sehe Familien zerbrechen und Menschen, die mit der Einsamkeit nicht zurecht kommen. Menschen, die bereits vorher labil waren, kippen jetzt und werden zunehmend depressiv. Das ist sehr bedrückend.
Wundert Sie das?
Nein. Die Corona-Krise geht jetzt so unglaublich lange, dass es die beste Psyche nicht aushält. Was mich als Psychiater ärgert ist, dass wir weiterhin mit schlechten Nachrichten nur so überschüttet werden und die Menschen sich dummerweise davor nicht schützen. Anfangs braucht man diese Aufmerksamkeit, um die Leute wach zu machen. Was die Politiker aber nicht realisieren: Wenn man zu viel Angst macht, führt das zu Fatalismus. Das ist das, was wir sehen, wenn junge Leute trotz Corona feiern und nicht wissen, was sie tun.
Corona ist seit fast einem Jahr das dominierende Thema. Bestimmt es unseren Alltag zu sehr?
Wir fokussieren uns nur noch auf Corona und sehen dabei gar nicht mehr, was um uns herum passiert. Wir sprechen in der Psychologie von selektiver Wahrnehmung. Neben Corona gibt es – um die Stimmung noch weiter zu trüben – immer noch Krebs, Herz- und Kreislauferkrankungen und viele andere sehr gefährliche Krankheitsbilder. Die werden aber kaum mehr wahrgenommen. Das ist gefährlich, weil Menschen aus Sorge vor Corona gar nicht mehr in die Krankenhäuser gehen. Angst macht Tunnelblick, und der verstärkt die selektive Wahrnehmung. Dann sehen wir nur noch, was Schlimmes passiert. Wir berichten ja auch wenig über symptomarme und unkomplizierte Corona-Krankheitsverläufe. Wir verschieben die ganze Nachrichtenlage so einseitig in das Katastrophale, dass ich mich als Psychiater fragen muss, wo die Menschen noch den Lebensmut hernehmen. Ein Dauerfeuer des Negativismus hat natürlich Auswirkungen auf die Psyche. Die Kollateralschäden sind viel größer, als wir sie wahrnehmen wollen.
Was schlagen Sie stattdessen vor? Wie sollten wir mit der Krise umgehen?
Mein Appell an den Landrat wäre beispielsweise, nicht nur die Sterbezahlen, sondern auch die Zahlen der Genesenen zu veröffentlichen. Mir gefällt es sehr gut, mit welchem Beispiel Tübingen voran geht und die Aktion der ärztlichen Kollegin mit den freiwilligen Antigen Schnelltest finde ich großartig. Die Politik muss auch Hoffnung machen, sonst geht es in eine verkehrte Richtung mit gefährlichen Folgen für uns alle. Was jeder einzelne tun kann, ist, mehr in der Gegenwart zu leben, statt die Zukunft zu katastrophieren. Ich empfehle, sich vor schlechten Nachrichten zu schützen und nur einmal am Tag Nachrichten zu schauen. Wir akzeptieren, dass es diese Krankheit gibt, befolgen die Regeln, um die InWas fektion einzudämmen, halten aber ansonsten den Ball flach. Dazu gehört, sich klar zu machen: Wenn Du infiziert bist, bist Du noch lange nicht krank. Und wenn Du krank bist, bist Du noch lange nicht Tod. Wir haben allen Grund, optimistisch zu sein.
Man hat das Gefühl, in der CoronaKrise treffen immer mehr Extreme aufeinander: Menschen, die Corona verharmlosen, stehen Menschen, die sich kaum mehr aus dem Haus trauen, gegenüber ...
Ja, die einen verleugnen und verdrängen. Das ist auch eine Überlebensstrategie. Dann sucht man die Nachrichten, die für einen passen, bei Pseudowissenschaftlern. Das sind nicht nur rechte Idioten, sondern auch ganz normale Bürger, die die Belastung nicht mehr aushalten und es so stark verleugnen müssen, damit sie noch Lebensfreude finden. Deren Bagatellisierung ist natürlich gefährlich für alle anderen. Ich sehe aber auch Menschen, die schon fast wahnhaft davon überzeugt sind, sich überall zu infizieren und gleich daran zu versterben. Ich kenne eine Familie, bei der der Vater Zuhause ausgezogen ist, weil er Angst hat, sich über sein eigenes Kind zu infizieren. Damit zerbricht eine ganze Familie. Man kann doch nicht einfach abhauen, wenn es gefährlich wird.
Bei Corona ist es ähnlich wie im Fußball: Jeder fühlt sich als Experte ...
Man muss sich davor hüten, dass jeder denkt, er kann mitreden. Ich habe mich auf die Haltung geeinigt: Ich hab keine Ahnung, und deshalb mache ich, was man mir sagt. Genauso, wie bei den Verkehrsregeln, die finde ich auch nicht immer sinnvoll, halte mich aber dran. Wenn Sie ins Krankenhaus zum Chirurgen gehen, diskutieren Sie mit ihm auch nicht über die Schnittführung. Wir müssen Vertrauen in die Politik haben und in die Virologen, auch wenn wir manches nicht verstehen. Wenn ich die Dinge akzeptiere, wie sie sind, mache ich mir mein Leben auch leichter.
Sie verkneifen sich also jegliche Verbesserungsvorschläge und Kritik?
mich wirklich ärgert ist, dass wir die Chancen der App nicht nutzen. Dass wir die heilige Kuh des Datenschutzes nicht opfern und kein Tracking machen, aber keine Skrupel haben, Gastronomie und Einzelhandel auf null zu stellen. Es gibt viele Menschen, denen es richtig schlecht geht in dieser Zeit – sozial und wirtschaftlich. Bei der Aktion des Nachrichtenmagazins Stern, wo ich am Sorgentelefon saß, haben mir viele Menschen gesagt, dass ihnen das Virus so was von egal ist, weil es um ihre Existenz geht. Die wissen nicht, wie sie ihre Miete bezahlen und ihre Kinder ernähren soll. Das waren Menschen, die hatten drei Jobs gleichzeitig. Die Beschränkungen, die wir jetzt haben, machen Leute, die Beamtengehälter kriegen. Menschen, die nicht so ein sicheres Geld haben, würden wohl andere Bestimmungen machen.
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Jetzt sind wir wieder im Lockdown. Wird es uns dieses Mal schwerer fallen als im Frühjahr? Und: Wie kann man sich vor einer Depression schützen?
Im Frühjahr hatten wir Sonne und Bewegung, im Winter fehlt uns das. Rein hirnphysiologisch haben wir im Winter weniger Stoff im Kopf, es mangelt uns an dem Neurotransmitter Serotonin und vor allem an den Endorphinen. Es gehört Disziplin dazu, aber man sollte sich jeden Tag zu Bewegung zwingen und dazu, seine Kontakte zu pflegen, indem man Freunde anruft. Wenn man keine Beziehung hat, die einen stabilisiert, oder Streitigkeiten wegen Covid aushalten muss, laufen wir irgendwann auf Reserve. Einfacher wird es auch, wenn man in die Akzeptanz geht: Man muss nicht immer gut gelaunt sein.
Wann wird es gefährlich?
Wenn der Affekt so starr wird, das ich ihn nicht mehr modulieren kann. Wenn ich also aus der Traurigkeit nicht mehr rauskomme, nicht mehr lachen kann, Schlafstörungen habe und über Suizid nachdenke. Das nimmt derzeit zu. Die Telefonseelsorge hat extrem viel zu tun. Menschen, die vorher schon gefährdet waren, sind jetzt noch gefährdeter. Es kann schon sein, dass wir in ein, zwei Jahren sehen, dass wir mehr Suizidtote haben. Aber ich sehe auch positive Effekte in Corona.
Welche?
Dass wir der Reizüberflutung entkommen und sich das Gehirn mal wieder erholen kann. Aber auch, dass Partnerschaften jetzt viel Zeit miteinander verbringen und merken, wie schön das ist.
Für manche Partnerschaften ist das aber eine Belastungsprobe ...
Ich merke immer wieder: Ist eine Beziehung gut, geht sie auch gut durch Corona. Ist sie vorher schon gespannt gewesen, ist Corona der letzte Totenstein, den man noch drauflegt. Dass man sich jetzt nicht ausweichen kann, ist mitunter aber auch problematisch und kann zu häuslicher Gewalt führen.
Corona wird zum Streitthema, das Beziehungen, Familien und Freundschaften belastet. Wie gehe ich damit um?
Schütze Dich vor dem Thema. Das macht man bei anderen Themen in der Partnerschaft ja auch, wo man sagt, lass uns nicht mehr darüber reden. Bei Corona kann man durchaus unterschiedliche Meinungen haben, sollte sich aber trotzdem an die Regeln halten.
Kein Einkaufsstress mehr, Feiern im kleinen Kreis: Steckt in diesem Weihnachten eine Chance?
Ich glaube schon. Weihnachten ist für Psychiater das Fest der Lüge, es wird nie soviel gelogen wie an Weihnachten. Es werden Leute eingeladen, die ich nicht leiden kann, weil ich mit ihnen verwandt bin. Auf die kann ich heuer wunderbar verzichten wegen Corona. Jetzt werden wir nur mit den Leuten feiern, die uns wirklich wichtig sind, bei allen anderen müssen wir keine Kränkung machen. Auch Beziehungen haben so die Chance intensiver zu werden, man hat Zeit für Zärtlichkeit, für Kommunikation, Zeit, mit den Kindern zu spielen und seine Gefühle zu spüren. Anstatt seine eigene Situation abzuwerten, sollte man den Blick darauf richten, was man alles hat und wie gut es einem geht.
Kann es ein friedliches Fest werden, wenn sich Menschen um den Tannenbaum versammeln, die vollkommen gegensätzliche Meinung zum Thema Corona haben?
Wenn man beispielsweise Eltern hat, die Angst haben, sich zu infizieren, und auf der anderen Seite sind junge Leute, die sich nicht einschränken wollen, dann kann ich die nicht einladen. Das ist ein Konflikt, den man früh ansprechen muss. Da muss man harte Kante zeigen. Sonst sitzen alle an Weihnachten verkrampft um den Baum. Harte Kante zeige ich auch bei Diskussionen mit Verschwörungsanhängern, weil ich das Verhalten dieser Menschen für unverantwortlich halte. Sie können ja für sich tun, was sie wollen, aber ich kann nicht akzeptieren, dass sie damit das Leben anderer Menschen gefährden.
Der Lindauer Christian Peter Dogs ist Psychiater und ärztlicher Psychotherapeut.
Er war 30 Jahre lang Chefarzt verschiedener psychomatischer Fachkliniken, ist Coach für Unternehmer und Manager der ersten Führungsebene, Spiegelbestsellerautor und niedergelassen in einer eigenen Praxis in Lindau. Das ganze Gespräch mit ihm gibt es zum Nachhören im Lindau-Podcast auf www.schwaebische.de/ podcasts