London im Lockdown
Großbritannien reagiert auf hoch ansteckende Mutation des Coronavirus
- Eine neue Variante des Coronavirus wirbelt die Weihnachtspläne von Millionen Menschen in Großbritannien durcheinander. Die Mutation breitet sich vor allem in Südostengland rasant aus und ist nach Behördenangaben bis zu 70 Prozent ansteckender als die bisher bekannte Form. „Sie ist außer Kontrolle, und wir müssen sie wieder unter Kontrolle bekommen“, sagte Gesundheitsminister Matt Hancock am Sonntag.
Um das Virus einzudämmen, gilt seit Sonntag in der Hauptstadt London und weiten Teilen Südostenglands auch über die Weihnachtstage ein harter Shutdown mit Ausgangssperren. Mehr als 16 Millionen Menschen sind betroffen, die ihre Häuser nur noch zur Arbeit und in wichtigen Ausnahmen wie Arztbesuchen oder Lebensmitteleinkäufen verlassen dürfen. „Wir opfern die Möglichkeit, unsere Lieben dieses Weihnachten zu sehen, damit wir eine bessere Chance haben, ihr Leben zu schützen, damit wir sie bei zukünftigen Weihnachten sehen können“, sagte Premierminister Boris Johnson.
Die Mutation des Virus sei im September erstmals in der Grafschaft
Kent beobachtet worden, teilte Hancock mit. Johnson betonte, es gebe keine Hinweise darauf, dass die Mutation schwerere Krankheitsverläufe oder eine höhere Sterblichkeitsrate auslöse oder dass Impfstoffe gegen die Mutation weniger effektiv seien. In London habe die Mutation Mitte November 28 Prozent der Covid-19-Fälle ausgelöst, inzwischen betrage ihr Anteil bereits 62 Prozent.
Mit den harten Gegenmaßnahmen vollzieht die konservative Regierung des Königreichs erneut eine Kehrtwende in ihrer Corona-Politik. Denn Premier Johnson hatte noch am Freitag am fünftägigen Virus-Urlaub über die Weihnachtstage festgehalten. Ab dem 23. Dezember sollten eigentlich alle Beschränkungen gelockert werden.
Doch seit Sonntag befindet sich nun der Südosten Englands in der neueingeführten Covid-Alarmstufe 4, die einem Lockdown gleichkommt. Die Bürger dürfen sich weder in Haus noch privatem Garten gegenseitig besuchen, Pubs und Restaurants, Fitnessstudios und Theater bleiben geschlossen. Für Beerdigungen gilt eine Obergrenze von 30 Trauernden, Hochzeiten gibt es nur für Todkranke, Gottesdienste nur ohne Gesang. Reisen von und nach London
sind nur in Ausnahmefällen erlaubt.
Was er den Reisenden mit gepackten Koffern raten würde, wurde der ärztliche Chefberater der Regierung am Samstag gefragt. „Bitte packen Sie die Koffer wieder aus“, antwortete Professor Christopher Whitty. Doch darauf hörten offenbar viele Briten nicht: Die Ausfallstraßen Londons waren am Wochenende verstopft, Flüge nach Paris blitzschnell ausverkauft. Tausende von Londonern eilten zu den Bahnhöfen, wo teilweise chaotische Zustände herrschten. Die Menschen hätten „völlig unverantwortlich“gehandelt, kritisierte Verkehrsminister Grant Shapps und beorderte zusätzliche Polizei an die Bahnhöfe.
Londons Bürgermeister Sadiq Khan zeigte Verständnis für den Shutdown, bei dem nicht lebensnotwendige Geschäfte und Einrichtungen schließen müssen. Zugleich kritisierte er die Regierung. „Es ist das Hin und Her, das zu so viel Angst, Verzweiflung, Trauer und Enttäuschung führt“, sagte Khan der BBC. „Wenn wir unsere Meinung immer wieder ändern, macht es das Leuten wie mir wirklich schwer, die Menschen zu bitten, uns zuzuhören.“Auch die Medien des Landes nahmen die Entscheidung überwiegend als notwendig hin, übten aber teils scharfe Kritik am Vorgehen der Johnson-Regierung. Es handle sich um „die richtige Entscheidung – getroffen zur falschen Zeit und auf falsche Weise“, schrieb der linksliberale „Observer“. Johnson sei „der erste Regierungschef seit Oliver Cromwell“zur Mitte des 17. Jahrhunderts, der Weihnachten absage, empörte sich das konservative Boulevardblatt „Sun on Sunday“: „Millionen von Briten werden zu Recht wütend sein, dass ihre Pläne über den Haufen geworfen wurden.“
Beim voraussichtlich letzten parlamentarischen Schlagabtausch des Jahres am Mittwoch hatte Johnson noch den Labour-Oppositionsführer Keir Starmer verhöhnt, als dieser Zweifel am Vorgehen der Regierung anmeldete. „Wenn er wenigstens den Mut hätte zu sagen, dass er Weihnachten absagen will“, rief der Konservative. Drei Tage später vollzog er – nicht zum ersten Mal – nach, was Wissenschaft und Opposition forderten. Er finde es „unglaublich frustrierend“, sagte Starmer am Samstag, dass die Regierung keine Führungskraft zeige: „Millionen von Familien wird das Herz brechen, weil ihre Weihnachtspläne im Eimer sind.“