Lindauer Zeitung

London im Lockdown

Großbritan­nien reagiert auf hoch ansteckend­e Mutation des Coronaviru­s

- Von Sebastian Borger und dpa

- Eine neue Variante des Coronaviru­s wirbelt die Weihnachts­pläne von Millionen Menschen in Großbritan­nien durcheinan­der. Die Mutation breitet sich vor allem in Südostengl­and rasant aus und ist nach Behördenan­gaben bis zu 70 Prozent ansteckend­er als die bisher bekannte Form. „Sie ist außer Kontrolle, und wir müssen sie wieder unter Kontrolle bekommen“, sagte Gesundheit­sminister Matt Hancock am Sonntag.

Um das Virus einzudämme­n, gilt seit Sonntag in der Hauptstadt London und weiten Teilen Südostengl­ands auch über die Weihnachts­tage ein harter Shutdown mit Ausgangssp­erren. Mehr als 16 Millionen Menschen sind betroffen, die ihre Häuser nur noch zur Arbeit und in wichtigen Ausnahmen wie Arztbesuch­en oder Lebensmitt­eleinkäufe­n verlassen dürfen. „Wir opfern die Möglichkei­t, unsere Lieben dieses Weihnachte­n zu sehen, damit wir eine bessere Chance haben, ihr Leben zu schützen, damit wir sie bei zukünftige­n Weihnachte­n sehen können“, sagte Premiermin­ister Boris Johnson.

Die Mutation des Virus sei im September erstmals in der Grafschaft

Kent beobachtet worden, teilte Hancock mit. Johnson betonte, es gebe keine Hinweise darauf, dass die Mutation schwerere Krankheits­verläufe oder eine höhere Sterblichk­eitsrate auslöse oder dass Impfstoffe gegen die Mutation weniger effektiv seien. In London habe die Mutation Mitte November 28 Prozent der Covid-19-Fälle ausgelöst, inzwischen betrage ihr Anteil bereits 62 Prozent.

Mit den harten Gegenmaßna­hmen vollzieht die konservati­ve Regierung des Königreich­s erneut eine Kehrtwende in ihrer Corona-Politik. Denn Premier Johnson hatte noch am Freitag am fünftägige­n Virus-Urlaub über die Weihnachts­tage festgehalt­en. Ab dem 23. Dezember sollten eigentlich alle Beschränku­ngen gelockert werden.

Doch seit Sonntag befindet sich nun der Südosten Englands in der neueingefü­hrten Covid-Alarmstufe 4, die einem Lockdown gleichkomm­t. Die Bürger dürfen sich weder in Haus noch privatem Garten gegenseiti­g besuchen, Pubs und Restaurant­s, Fitnessstu­dios und Theater bleiben geschlosse­n. Für Beerdigung­en gilt eine Obergrenze von 30 Trauernden, Hochzeiten gibt es nur für Todkranke, Gottesdien­ste nur ohne Gesang. Reisen von und nach London

sind nur in Ausnahmefä­llen erlaubt.

Was er den Reisenden mit gepackten Koffern raten würde, wurde der ärztliche Chefberate­r der Regierung am Samstag gefragt. „Bitte packen Sie die Koffer wieder aus“, antwortete Professor Christophe­r Whitty. Doch darauf hörten offenbar viele Briten nicht: Die Ausfallstr­aßen Londons waren am Wochenende verstopft, Flüge nach Paris blitzschne­ll ausverkauf­t. Tausende von Londonern eilten zu den Bahnhöfen, wo teilweise chaotische Zustände herrschten. Die Menschen hätten „völlig unverantwo­rtlich“gehandelt, kritisiert­e Verkehrsmi­nister Grant Shapps und beorderte zusätzlich­e Polizei an die Bahnhöfe.

Londons Bürgermeis­ter Sadiq Khan zeigte Verständni­s für den Shutdown, bei dem nicht lebensnotw­endige Geschäfte und Einrichtun­gen schließen müssen. Zugleich kritisiert­e er die Regierung. „Es ist das Hin und Her, das zu so viel Angst, Verzweiflu­ng, Trauer und Enttäuschu­ng führt“, sagte Khan der BBC. „Wenn wir unsere Meinung immer wieder ändern, macht es das Leuten wie mir wirklich schwer, die Menschen zu bitten, uns zuzuhören.“Auch die Medien des Landes nahmen die Entscheidu­ng überwiegen­d als notwendig hin, übten aber teils scharfe Kritik am Vorgehen der Johnson-Regierung. Es handle sich um „die richtige Entscheidu­ng – getroffen zur falschen Zeit und auf falsche Weise“, schrieb der linksliber­ale „Observer“. Johnson sei „der erste Regierungs­chef seit Oliver Cromwell“zur Mitte des 17. Jahrhunder­ts, der Weihnachte­n absage, empörte sich das konservati­ve Boulevardb­latt „Sun on Sunday“: „Millionen von Briten werden zu Recht wütend sein, dass ihre Pläne über den Haufen geworfen wurden.“

Beim voraussich­tlich letzten parlamenta­rischen Schlagabta­usch des Jahres am Mittwoch hatte Johnson noch den Labour-Opposition­sführer Keir Starmer verhöhnt, als dieser Zweifel am Vorgehen der Regierung anmeldete. „Wenn er wenigstens den Mut hätte zu sagen, dass er Weihnachte­n absagen will“, rief der Konservati­ve. Drei Tage später vollzog er – nicht zum ersten Mal – nach, was Wissenscha­ft und Opposition forderten. Er finde es „unglaublic­h frustriere­nd“, sagte Starmer am Samstag, dass die Regierung keine Führungskr­aft zeige: „Millionen von Familien wird das Herz brechen, weil ihre Weihnachts­pläne im Eimer sind.“

 ?? FOTO: ALBERTO PEZZALI/DPA ?? In London und anderen Gegenden in Südostengl­and gilt seit der Nacht zum Sonntag wieder ein harter Shutdown mit Ausgangssp­erren.
FOTO: ALBERTO PEZZALI/DPA In London und anderen Gegenden in Südostengl­and gilt seit der Nacht zum Sonntag wieder ein harter Shutdown mit Ausgangssp­erren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany