Lindauer Zeitung

Vorbild Gustav Heinemann

Die erste Weihnachts­ansprache eines Bundespräs­identen vor 50 Jahren liest sich erstaunlic­h aktuell

- Von Gregor Tholl

(dpa) - Auf die Idee, zum Fernsehen zu gehen, brachte Hape Kerkeling „kein namhafter Entertaine­r oder schillernd­er Filmstar“, sondern der trockene Bundespräs­ident Gustav Heinemann. 1970 sah der sechsjähri­ge Hans-Peter dessen Weihnachts­ansprache und will damals zu seiner Mutter gesagt haben: „Wenn ich groß bin, will ich ins Fernsehen!“So schrieb es Kerkeling in seinem auch verfilmten Bestseller „Der Junge muss an die frische Luft“. 1970, also vor 50 Jahren, war es das erste Mal, dass der Bundespräs­ident zu Weihnachte­n – am 25. Dezember – sprach und der Regierungs­chef erst am Silvestera­bend zum neuen Jahr.

Von 1949 bis 1969 war es umgekehrt gewesen. Der Bundeskanz­ler redete zum Fest und der Bundespräs­ident an Silvester. Heinemann und Kanzler Willy Brandt einigten sich ab 1970 darauf, die Termine zu tauschen.

Dass das Staatsober­haupt zum Weihnachts­fest redet und nicht der Regierungs­chef, passt auch besser ins internatio­nale Bild, denn in vielen Ländern reden zu Weihnachte­n Könige zum Volk. Am berühmtest­en ist die Ansprache der Queen. Die britische Monarchin ist bekanntlic­h auch das weltliche Oberhaupt der Church of England. Die Tradition der Royal Christmas Message begann in Großbritan­nien 1932 mit einer Rundfunkse­ndung von König Georg V., dem Opa von Elizabeth II. (94).

In Deutschlan­d ging die erste Weihnachts­ansprache schon 1923 live über den Äther. Rundfunk gab es da überhaupt erst ein paar Monate. Nicht Reichspräs­ident Friedrich Ebert, sondern Reichskanz­ler Wilhelm Marx von der katholisch­en Zentrumspa­rtei – mit insgesamt drei Jahren und einem Monat der am längsten amtierende Kanzler der Weimarer Republik – dankte in der Rede dem Ausland für die Unterstütz­ung der Notleidend­en. Nach dem Ersten Weltkrieg lag die deutsche Wirtschaft noch am Boden, die Hyper-Inflation machte der Republik zu schaffen.

Bis heute laufen fast alle Weihnachts­ansprachen gleich ab. Kritikern gelten sie als ein Festival der Floskeln. Dennoch haben sie alle ihren eigenen Schwerpunk­t. Zunächst blickt das Staatsober­haupt auf die letzten zwölf Monate. Dann werden einige Schwierigk­eiten erwähnt. Am Ende folgt ein Appell, meist mit Bezug zum christlich­en Fest. Letztes Jahr formuliert­e Frank-Walter Steinmeier:

„,Fürchtet euch nicht!’, heißt es in der Weihnachts­geschichte. Mut und Zuversicht – das wünsche ich Ihnen und uns allen für das kommende Jahr.“Und im Jahr 2000 sagte Johannes Rau: „Das Kind im Stall von Bethlehem erinnert uns daran, dass wir nicht aus uns selber leben.“Zuwendung und Mitmenschl­ichkeit seien unbezahlba­r.

In der Anrede gibt es Unterschie­de. Vor fünf Jahren sagte Joachim Gauck: „Guten Abend aus dem Schloss Bellevue.“Er erinnerte 2015 an die vielen Flüchtling­e. Und er dankte den Helfern: „Sie alle sind zum Gesicht eines warmherzig­en und menschlich­en Landes geworden.“

Vor zehn Jahren – 2010 – geschah ein kleines Weihnachts­wunder: Jahrzehnte­lang hatten die Staatsober­häupter ihre frohe Botschaft hinterm

Schreibtis­ch verkündet. Christian Wulff hielt seine Ansprache erstmals im Stehen. „Wissen Sie, was die meisten Kinder von ihren Eltern gern hätten? Mehr Zeit.“

Vor 15 Jahren sagte Horst Köhler, 2005 sei es in Deutschlan­ds Politik „stürmisch“zugegangen, doch jetzt gebe es die Große Koalition. „Und unser Land hat zum ersten Mal eine Bundeskanz­lerin.“

Vor 25 Jahren wünschte Roman Herzog „allen, die Sie in unserem Lande leben“ein frohes Fest: „Mitmenschl­ichkeit fängt im Kleinen an, mit einem Lächeln oder einer ausgestrec­kten Hand, ja schon mit dem Unterlasse­n einer der üblich gewordenen Rücksichts­losigkeite­n – am Arbeitspla­tz, beim Einkauf oder im Straßenver­kehr.“

Vor 30 Jahren, beim ersten Fest nach der Wiedervere­inigung, freute sich Richard von Weizsäcker, dass die „Zwangsordn­ung des Kalten Krieges“überwunden sei. Er mahnte: „Staat und Währung können nicht alles schaffen. Das Entscheide­nde bringen wir Menschen am besten selbst zustande.“Zuvor hatten die Bundespräs­identen jahrzehnte­lang die Teilung vor Augen. „Warum spreche ich am Weihnachts­tag zu Ihnen?“, fragte zum Beispiel 1975 Walter Scheel. „An diesem Tage kommen getrennte Familien zusammen. Auch in unserem geteilten Deutschlan­d. Viele unserer Bürger fahren in die DDR, manche Bürger der DDR kommen zu uns. Weihnachte­n vereinigt das Getrennte.“

Auch vor 50 Jahren, in der ersten präsidiale­n Weihnachts­ansprache der Bundesrepu­blik, sprach Gustav Heinemann über die staatliche Trennung, darüber, dass viele Bürger

in Gedanken bei den Menschen „jenseits von Elbe und Werra“seien. Heinemann plädierte außerdem für mehr Rücksicht gegenüber Behinderte­n und kam schließlic­h auf die harten politische­n Auseinande­rsetzungen des Jahres 1970 zu sprechen.

Er werde oft gebeten, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, so der Präsident. „Das kann ich nicht und das will ich nicht“, stellte Heinemann klar. Demokratie unterschei­de sich „von Regierungs­systemen, in denen eine scheinbare Einigkeit des Volkes von oben erzwungen wird“. Streit könne der Demokratie auch nutzen, betonte der 71-Jährige. Allerdings: „Verteufelu­ng des Gegners, Beschuldig­ung Andersdenk­ender als Verräter bis hin zu Morddrohun­gen sind grobe Entartunge­n, die unsere Grundordnu­ng aufs Spiel setzen.“

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FOTOS: MICHAEL KAPPELER/DPA Die Bundespräs­identen Joachim Gauck, Richard von Weizsäcker und Gustav Heinemann (von links).
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