Interview
- Weihnachten und Musik gehören für viele Menschen zusammen. Aber warum ist das so? Katja Waizenegger hat sich mit Klaus K. Weigele, dem Direktor der Landesakademie für die musizierende Jugend in Ochsenhausen, unterhalten: über sein Lieblingslied an Weihnachten, über musizierende Steinzeitmenschen und die frivole Herkunft mancher Weihnachtslieder.
Menschen, die das ganze Jahr ihr Klavier keines Blickes würdigen, ziehen kurz vor Heiligabend ihr altes Notenheft heraus und begleiten ihre Familie, meist mehr recht als schlecht, zu „O du fröhliche“. Warum?
Es hat sicher damit zu tun, dass Weihnachten eine Zeit ist, in der man zur Ruhe kommt und dann gerne auf Traditionen wie das gemeinsame Singen zurückgreift. Und wir haben schließlich einen reichen Schatz an Advents- und Weihnachtsliedern, aber auch an Liedern zum Thema Winter, die keinen religiösen Hintergrund haben.
Wann hat denn das Musizieren an Weihnachten angefangen?
Erst mit der bürgerlichen Familientradition Anfang des 19. Jahrhunderts. In der Zeit entstanden die Rituale, die wir heute kennen: der geschmückte Christbaum im Wohnzimmer, Geschenke für die Kinder. Und aus der Zeit stammen auch viele traditionelle Weihnachtslieder wie „Leise rieselt der Schnee“. Das wohl bekannteste Weihnachtslied, „Stille Nacht, heilige Nacht“, wurde 1818 in Oberndorf bei Salzburg komponiert. Auch bei einem anderen berühmten Adventslied, „Maria durch ein Dornwald ging“, würde man ein mittelalterliches Stück vermuten, doch es ist erst Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden.
Hatten Menschen nicht immer schon das Bedürfnis nach Musik, wenn’s festlich wird?
Das älteste Musikinstrument der Welt, eine Flöte aus Schwanenknochen, wurde ja in unserer Region auf der Schwäbischen Alb gefunden. Sie ist etwa 35 000 Jahre alt. Mit Instrumenten wie diesem haben Menschen der Steinzeit Rituale begleitet, Rituale, die zu einer sozialen Gemeinschaft gehören. Über die Jahrtausende und Jahrhunderte stand Musik immer in Verbindung mit Ritualen. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen die belegen, dass Steinzeitmenschen, die Rituale gepflegt haben, einen evolutionären Vorteil gegenüber denen hatten, die das nicht getan haben. Die Stämme ohne Rituale sind ausgestorben.
Wer singt, der überlebt?
Das ist vielleicht etwas übertrieben. Aber: Wer singt, dem geht es auf jeden Fall besser. Es ist nachgewiesen, dass das gemeinsame Singen und Musizieren Endorphine, Glückshormone, freisetzt. Die machen Menschen auch widerstandsfähiger gegenüber Krankheiten, was besonders im Winter wichtig ist. Und zurzeit ganz besonders.
Gilt das auch, wenn ich alleine für mich in der Kammer singe?
Singen allein macht ein bisschen glücklich, Singen in der Gruppe macht richtig glücklich.
Was machen die Menschen, die nicht singen können?
Ich empfehle jedem, es einfach zu versuchen. Oft hat eine negative Einstellung mit einer negativen Erfahrung zu tun. Ich sehe das bei unseren Kinderchören hier in der Landesakademie. Da sind Brummer dabei, die erst nach Monaten ins Singen hineinfinden. Es gibt ganz, ganz wenige Menschen, die tatsächlich nicht singen können.
Können es auch Erwachsene noch lernen?
Natürlich! Einem Kind fällt es leichter, aber auch jeder Erwachsene kann singen lernen. Aber als Trost für diejenigen, die nicht singen möchten: Auch das Hören von Musik löst Glücksgefühle aus. Es sind die positiven Erinnerungen, die wir mit einem Musikstück verbinden. Hier in der Region ist das der Schnee oder der Duft von Glühwein und Lebkuchen. Dieser Subtext läuft bei Weihnachtsliedern mit ab.
Lässt uns unser Musikgeschmack zu Weihnachten kurzzeitig im Stich? Melodie und Texte der Lieder sind ja oft eher schlicht.
Das stimmt. Man denke nur an den „holden Knaben im lockigen Haar“in „Stille Nacht“. Das würde man ja sonst nie mehr singen. Aber an Weihnachten macht die kritische Textbetrachtung Pause. Da sind wir emotionaler und deshalb auch großzügiger.
Haben Weihnachtslieder womöglich ein eigenes Muster in Harmonie und Rhythmus?
Nein, denn Weihnachtslieder sind ursprünglich oft nicht als solche entstanden. Nehmen wir zum Beispiel das Lied „Zu Bethlehem geboren“. Das war ursprünglich ein frivoles französisches Chanson. Ein Kölner Pfarrer hat es im 17. Jahrhundert umgetextet, um dem Sittenverfall der Zeit entgegenzuwirken. Erst später wurde daraus ein Weihnachtslied. Oder „O du fröhliche“, das eigentlich ein sizilianisches Marienlied ist. Auch „O Tannenbaum“war ursprünglich ein Liebeslied, das einfach einen neuen Text bekommen hat.
Aber Bachs Weihnachtsoratorium, der große Klassikhit der Weihnachtsmusik, ist schon ein Original, oder?
Johann Sebastian Bach musste seinerzeit als Kantor in Leipzig so viel Musik abliefern, dass er auch für das Weihnachtsoratorium zum Teil bereits aufgeführte Werke wiederverwendet hat. Er hatte gar nicht die Zeit, permanent Neues zu komponieren. Deshalb hat er unter einen weltlichen Kantatenteil einen geistlichen Text geschrieben, das Werk an der einen oder anderen Stelle musikalisch angepasst, und fertig war der Eingangschor des Weihnachtsoratoriums. Dieses sogenannte Parodieverfahren,
man nennt es auch Kontrafaktur, war damals durchaus üblich. Bei mir zu Hause läuft übrigens am Heiligabend immer dieser Eingangschor: „Jauchzet, frohlocket“. Festlicher geht es nicht!
Was raten Sie den Menschen, denen die Musik in der Kirche und im Konzert zu Weihnachten so sehr fehlen?
Es gibt Versuche, die Misere zu mildern. So ruft der bayerische Musikrat beispielsweise dazu auf, am Heiligabend um 15 Uhr auf den Balkon oder die Terrasse zu gehen, um gemeinsam das Lied „O du fröhliche“und „Alle Jahre wieder“zu singen. Ich denke, auch in der Familie kann man das eine oder andere Weihnachtslied singen, eine CD anhören. Insgesamt erkennt man in dieser bizarren Zeit aber, wie schmerzlich wir Livekonzerte vermissen. Wenn wir eines gelernt haben, dann, dass Musik übers Netz kein wirklicher Ersatz ist. Ich wünsche mir aber auch, dass die Menschen nicht nur an Weihnachten zu Musikliebhabern werden. Wenn wir diese Pandemie hoffentlich bald überstanden haben, sollten wir dann die unterstützen, die uns diese Musik immer von Neuem bescheren: die Musikerinnen und Musiker.