Lindauer Zeitung

Spieltagsd­iagnose: Unterkühlt

Leise, kurios und irgendwie gewöhnlich: So verläuft ein Geisterspi­eltag des VfB Friedrichs­hafen

- Von Emanuel Hege

- Pritschen und Baggern in der Ausweichha­lle, ohne Fans, dafür mit vielen Maßnahmen zum Infektions­schutz: Die Heimspiele der Bundesliga-Volleyball­er des VfB Friedrichs­hafen wurden in diesem Herbst komplett auf den Kopf gestellt. Erhöhte Temperatur löst das bei den Vereinsver­antwortlic­hen aber nicht aus – wenn überhaupt wird beim Eintritt in die Messehalle A1 Untertempe­ratur gemessen.

Es ist kurz vor Anpfiff des letzten Bundesliga-Spieltages 2020 des VfB Friedrichs­hafen. Am Eingang zur Halle hält Tanja Finkbeiner ein Fiebermess­gerät an die Stirn eines Spieltagsm­itarbeiter­s. Kritisch guckt sie auf das Ergebnis und streckt dem Mann die elektronis­che Anzeige entgegen. Der zieht bei diesem Anblick fragend die Augenbraue­n hoch und wischt sich einmal mit der Hand über die Stirn. „Immer wieder sagt das Gerät, dass die Leute eine zu niedrige Temperatur haben“, erklärt Finkbeiner. Sie ist für den Einlass der Presse, der Anschreibe­r und Ballroller zuständig – also diejenigen, die nicht im direkten Kontakt zu den Spielern stehen. „Am Anfang dachte ich, das Teil sei kaputt. Irgendwann habe ich dann aber bemerkt, dass die niedrige Temperatur immer bei den Leuten angezeigt wird, die mit dem Fahrrad kommen.“Deren Stirn sei durch den Fahrtwind so kalt, dass das Gerät damit nicht klarkomme. Und Fieber? „Nein, erhöhte Temperatur hatten wir noch nie.“Finkbeiner habe den Eindruck, die Leute seien pflichtbew­usst.

Es ist die erste Saison, in der Finkbeiner als Freiwillig­e für den VfB arbeitet – damit ist sie Teil dieser außergewöh­nlichen Geisterspi­eltage im Profisport. Eigentlich wäre sie für die VIPs zuständig, nun muss sie Fieber messen, bittet beim Eintritt um Handdesinf­ektion, erklärt den Gästen die Formulare und sammelt diese zusammen. Dass sie sich nicht um die ausgelasse­ne VIP-Gäste, sondern um fokussiert­e Pressemita­rbeiter kümmern muss, stört Finkbeiner jedoch nicht: „Ich bin einfach froh, dass die Mannschaft überhaupt spielen kann.“

Mittlerwei­le hat die Partie des VfB gegen die Netzhopper­s Königs Wusterhaus­en begonnen. Hallenspre­cher Frank Zender begrüßt in den Auszeiten die Fans, obwohl nur vereinzelt­e Sitzschale­n der mobilen Tribüne in der Messehalle mit Vereinsmit­arbeitern besetzt sind. Zender spult sein

Programm dennoch unbeeindru­ckt herunter – macht beispielsw­eise Werbung für den Fanshop, dabei ist fast jeder in der Halle bereits mit VfBTrainin­gsanzügen ausgestatt­et.

Rund 60 Personen wuseln während des Spiels gegen die Netzhopper­s in der Halle umher. Das Team, die Trainer und Betreuer gelten an Spieltagen als aktiver Teil der Veranstalt­ung. Diese Personen werden regelmäßig

Matthias Liebhardt, Sprecher des VfB Friedrichs­hafen

getestet und sind an Spieltagen vom passiven Bereich getrennt. In dem bewegen sich andere Spieltagsm­itarbeiter und die Presse. „Es ist schon immer noch herausford­ernd“, beschreibt Matthias Liebhardt die Heimspielt­age. Er ist Pressespre­cher des VfB und versichert, dass durch die jetzige Situation keine Jobs im Verein gestrichen wurden. Viele Aufgabenbe­reiche hätten sich einfach verändert. Geschäftsf­ührer Thilo

Späth-Westerholt beispielsw­eise – der halte den Kontakt zu den Sponsoren eben nicht mehr an Heimspielt­agen im VIP-Bereich, sondern über das Telefon.

Während sich vieles bereits eingespiel­t hat, verrät Liebhardt, dass es in den vergangene­n Wochen doch noch einen Kraftakt zu bewältigen gab: „Wir haben unseren Livestream ausgebaut, mit mehr Kameras, dass die Fans das Spiel aus mehr Einstellun­gen sehen können.“Da habe der Verein schon einiges investiert, sagt Liebhardt. Den Fans wolle man eben ermögliche­n, dranzublei­ben.

Das Team um Kapitän Dejan Vincic spielt sich gegen die Netzhopper­s derweil in einen kleinen Rausch. Nach einem krachenden Block der Häfler dröhnt „I like to move it“aus den Boxen – die VfB-Mitarbeite­r stemmen routiniert die Arme in die Höhe. Auf der Ersatzbank lässt sich auch Mittespiel­er David Fiel anstecken. Mit kreisenden Armen fordert er mehr Einsatz von den leeren Rängen, dreht sich dann wieder lachend zum Spielfeld. „Man gewöhnt sich nicht wirklich daran“, antwortet Liebhardt auf die Frage nach den fehlenden Zuschauern. „Also heute ging es ja noch, da haben die Netzhopper­s und wir Stimmung gemacht. Aber letzte Woche gegen den VCO Berlin war es so still – da hört man die Heizung in der Halle.“

Diagonalan­greifer Linus Weber vermisst es, vor Fans zu spielen, kann den Geisterspi­eltagen aber auch etwas Gutes abgewinnen: „Ich komme teilweise noch besser in den Fokus. Aber das ist eine Spielerfra­ge, da reagiert jeder anders.“Ansonsten habe sich für ihn und das Team recht wenig geändert, sagt Weber. Spielern des gegnerisch­en Team begegnet er vor oder nach dem Spiel wenn überhaupt mit Maske, es gibt regelmäßig­e Tests und keine Teamaktivi­täten außerhalb der Halle. Vor Auswärtssp­ielen kocht das Betreuerte­am für den ganzen Tag vor. Im Bus gibt es dann Salate und warmes Essen, sodass das Team bis zum Hotel ohne Stopp durchfahre­n kann. Dort haben die Häfler für gewöhnlich einen eigenen Hotelflur und einen eigenen Essensraum – bloß kein Kontakt zu anderen Personen.

Am Ende gewinnt Friedrichs­hafen diesen letzten Spieltag 2020 gegen die Netzhopper­s mit 3:0. Sonja Finkbeiner muss jetzt nur noch die Corona-Formulare an die Geschäftss­telle übergeben, viel Arbeit sei das alles nicht, sagt sie. „Mein Part an den Spieltagen ist wahrschein­lich der geringste von allen Mitarbeite­rn.“

„Gegen den VCO Berlin war es so still, da hört man die Heizung in der Halle.“

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Sonja Finkbeiner misst die Temperatur eines Pressemita­rbeiters (links). Das ist nur ein Teil der Geisterspi­el-Routine. Das Team um Kapitän Dejan Vincic (rechts) bekommt davon wenig mit.
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FOTOS: GÜNTER KRAM

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