Die im Dunkeln sieht man wohl
Im oberschwäbischen Baindt werden blinde und behinderte Kinder für den Alltag fit gemacht
Viel besser als an diesem vorweihnachtlichen Morgen kann die Aufforderung nicht umgesetzt werden. „Komm, stell dich in die Mitte!“, sagte Jesus einst zu einem behinderten Menschen. Diese Botschaft ist zum zentralen Anliegen des Sonderpädagogischen Bildungsund Beratungszentrums Sehen (SBBZ) in Baindt – in der Region besser bekannt als Blindenschule – geworden.
Heute ist es Hermann, der sich in die Mitte stellen darf. Der Dreijährige besucht eine der zwei Gruppen im Kindergarten Pusteblume, der zum SBBZ gehört, und sitzt erst einmal ganz artig zusammen mit vier anderen Kindern im Morgenkreis. Leiterin Beate Bez-Cüppers und ihre zwei Mitarbeiter begrüßen die Kinder namentlich. Eines nach dem anderen. Für Lea, Ella, Kassandra, Karim und Hermann wird ein kleines Begrüßungslied gesungen und dazu geklatscht, gestampft oder gewackelt. „Wie schön, dass du hier bist. Wir hätten dich vermisst.“Bez-Cüppers rollt ein langes Holzbrett in die Mitte des Kreises, auf dem eine Szene mit Krippe, Stoffpuppen, Stofftieren und einem steinigen Weg aufgebaut ist. Hermann geht hin, nimmt Maria und Josef sowie den Esel vorsichtig in die Hand, tastet ab. „Esel“, sagt er, und „Steine“. Bez-Cüppers erzählt die Geschichte von Maria und Josef, die Kinder begleiten sie mit entsprechenden Gesten und Gebärden. Jedes, so gut es kann. Denn Hermann und seine Kindergartenfreunde haben ein Handicap, manche sind sogar mehrfach behindert und müssen im Rollstuhl sitzen. Alle aber haben ein Problem mit dem Sehen. Hermann selbst ist völlig erblindet. In den Augenhöhlen des hübschen Jungen sitzen zwei Glaskugeln.
Trotzdem bewegt er sich erstaunlich sicher durch den Raum. Er ist es heute, der sich vom geschmückten und elektrisch beleuchteten Christbaum ein Adventsgeschenk holen darf. Seine kleinen
Hände tasten die Zweige ab, finden den an ihn gerichteten Brief, den Bez-Cüppers ihm vorliest. „Hermann, du darfst heute die Trommel schlagen. Ist das nicht ein tolles Geschenk?!“Der Junge nickt und lächelt. „Trommel“, sagt er leise und scheint dabei sehr glücklich zu sein. Seine Nebensitzerin Kassandra, selbst stark sehbehindert, streichelt seinen Arm und freut sich mit ihrem Spielkameraden.
Jemand, der zum ersten Mal Szenen wie diese beobachtet, ist tief gerührt. Und mag es kaum glauben, dass die Kinder so lieb und verständnisvoll miteinander umgehen oder dass Hermann absolut nichts sieht, kein noch so winziges Licht im Dunkel erkennen kann. Und trotzdem irgendwie strahlt und zufrieden wirkt.
„Hermann ist erst seit wenigen Wochen bei uns. Er kommt aus Thailand und konnte kaum Deutsch. Aber er ist sehr fit und hat bereits enorme Fortschritte gemacht“, sagt Beate Bez-Cüppers. Und das nicht nur, was die deutsche Sprache betrifft. Der Knirps lernt bereits, mit dem Blindenstock richtig umzugehen. „Damit beginnen wir, sobald die Kinder laufen können“, erklärt die Heilpädagogin. Sie verteilt kleine Glocken an die Mädchen und Jungen, greift zur Gitarre und singt mit ihren Schützlingen ein Lied, bei dem die Kleinen begeistert ihre Glocken anschlagen, wenn es im Refrain „Ding-Dong, ding-dong“heißt.
Dann wird es Zeit fürs zweite Frühstück, und Bez-Cüppers hat Gelegenheit, über die besonderen Methoden und das spezielle Spielmaterial, das in der Pusteblume zum Einsatz kommt, zu sprechen. Denn während es im großen Raum nicht viel anders aussieht als in jedem anderen Kindergarten auch, ein Kaufladen und große Holzautos in der Ecke stehen, Puppen, ja sogar Bilderbücher im Regal liegen und Rückzugsecken gemütlich ausgestattet sind, birgt der angrenzende sogenannte Dunkelraum Besonderes. In ihm gibt es zum Beispiel Duplosteine, die zu leuchten beginnen, wenn man sie aufeinandersteckt. Bez-Cüppers stapelt neonfarbene Bauklötze auf einer Leuchtplatte und führt I-Pad-Programme vor, mit denen Kinder simple Spiele spielen können. „Natürlich arbeiten wir viel mit Schwarz-Weiß oder Hell-DunkelKontrasten. Die Kinder vespern zum Beispiel aus blauem Geschirr, das auf gelben Sets steht. Wir schulen die Augen-Hand-Koordination, fördern aber auch alle anderen Sinnesorgane“, erklärt sie. Tasten, hören, fühlen gehören dazu.
Zwei bis sechs Jahre alt sind die Mädchen und Jungen, die den Kindergarten des SBBZ in Baindt besuchen. Sie kommen aus ganz Oberschwaben, dem Bodenseegebiet und dem Allgäu. Das Einzugsgebiet ist riesig, denn Einrichtungen wie die Pusteblume sind rar gesät im Land.
An der Garderobe liegen Blindenbinden und hängen die Blindenstöcke für die kleinen Mädchen und Jungen.
Bez-Cüppers betreut die Kinder täglich zusammen mit zwei Erzieherinnen, einem Sonderschullehrer und einer Ergotherapeutin. Ihr oberstes Ziel ist dabei, schon die Kleinen fit für den Alltag zu machen. Soweit möglich. Denn die Bandbreite der Kindergartenkinder sowie aller anderen SBBZ-Schützlinge reicht von mehrfach schwer Behinderten bis hin zu Mädchen und Jungen, die „nur“sehbehindert oder blind sind. Für alle aber wollen die rund 200 Mitarbeiter im übertragenen Sinne Licht in die Dunkelheit bringen. Oder anders ausgedrückt, um beim
Thema dieser Weihnachtsbeilage zu bleiben: ein kleiner
Stern sein, der am Nachthimmel leuchtet.
Das gilt auch für die 18-jährige Magdalena, die im SBBZ ihr freiwilliges soziales Jahr (FSJ) verbringt. Sie arbeitet vor allem mit den Jugendlichen des Bildungs- und Beratungszentrums und begleitet zum Beispiel die Schüler auf ihrem Weg vom Internat hinunter zu den Kooperationsklassen im Ort. Heute ist sie mit Florinel unterwegs, der schon ganz aufgeregt ist, weil er der Presse ein Interview geben soll. Magdalena hält sich im Hintergrund und lässt ihren Schützling reden. Und aus Florinel sprudelt es regelrecht heraus. Er erzählt, dass er blind ist, nur hell und dunkel unterscheiden kann, manchmal Schatten erkennt. Dass er E-BassGitarre spielt und dafür das absolute Gehör besitzt. Und dass er unterschiedliche Braille-Schriften (Blindenschrift) lesen kann. „Ich bin aber auch sehr gut im Umgang mit Smartphones“, betont der 14Jährige nicht ohne Stolz in der Stimme. Die Handys bedient er schnell mit viel Fingerspitzengefühl. Denn auch die Fingerspitzen der Kinder und Jugendlichen werden speziell sensibilisiert.
Seit sieben Jahren besucht Florinel das SBBZ in Baindt, für ihn ist es längst ein zweites Zuhause geworden. Hier lebt er im Internat, hier hat er Freunde gefunden, hier hat er so scheinbar einfache Dinge gelernt, wie sein Brot selbst zu schmieren oder sein Bett zu machen. Aber noch viel wichtiger sei für ihn, das gute Gefühl zu haben, „dass mir hier von allen geholfen wird und dass ich zu allen Vertrauen haben kann“. Kaum hat er diesen Satz ausgesprochen, wendet er sich Magdalena zu und tätschelt ihr den Arm. Die FSJ-lerin lächelt und betont, dass sie hier tolle Erfahrungen gemacht hat und von den Jugendlichen viel zurückbekommt. Bei ihrer Arbeit versuche sie, das Auge für die Kinder zu sein und alles zu beschreiben, was sie sehe. Was nicht immer einfach sei, zum Beispiel wenn es um Farben gehe.
Auch Florinel lächelt und macht einen durchaus zufriedenen Eindruck. Doch Marcus Adrian, Leiter des SBBZ, warnt: Was oft so leicht und spielerisch wirke, erfordere eine besondere Pädagogik. Viele der Kinder, die das SBBZ von Geburt an bis ins Erwachsenenalter betreut, seien nicht nur seh- oder mehrfachbehindert, sondern teilweise sogar taub-blind. „Das Gefährliche bei Mehrfachbehinderungen ist, dass das Sehen oft übersehen wird. Bei uns aber stehen die Sinnesbehinderungen im Mittelpunkt“, stellt Adrian fest.
Für Florinel wird es Zeit zu gehen. Das Mittagessen wartet. Als er den Raum verlässt, sagt Magdalena den vielleicht wichtigsten Satz des Tages: „Wer hier arbeitet, merkt sehr schnell, was für ein Geschenk es ist, sehen zu können.“
Florinel, 14 Jahre alt