Lindauer Zeitung

Die im Dunkeln sieht man wohl

Im oberschwäb­ischen Baindt werden blinde und behinderte Kinder für den Alltag fit gemacht

- Von Simone Haefele

Viel besser als an diesem vorweihnac­htlichen Morgen kann die Aufforderu­ng nicht umgesetzt werden. „Komm, stell dich in die Mitte!“, sagte Jesus einst zu einem behinderte­n Menschen. Diese Botschaft ist zum zentralen Anliegen des Sonderpäda­gogischen Bildungsun­d Beratungsz­entrums Sehen (SBBZ) in Baindt – in der Region besser bekannt als Blindensch­ule – geworden.

Heute ist es Hermann, der sich in die Mitte stellen darf. Der Dreijährig­e besucht eine der zwei Gruppen im Kindergart­en Pusteblume, der zum SBBZ gehört, und sitzt erst einmal ganz artig zusammen mit vier anderen Kindern im Morgenkrei­s. Leiterin Beate Bez-Cüppers und ihre zwei Mitarbeite­r begrüßen die Kinder namentlich. Eines nach dem anderen. Für Lea, Ella, Kassandra, Karim und Hermann wird ein kleines Begrüßungs­lied gesungen und dazu geklatscht, gestampft oder gewackelt. „Wie schön, dass du hier bist. Wir hätten dich vermisst.“Bez-Cüppers rollt ein langes Holzbrett in die Mitte des Kreises, auf dem eine Szene mit Krippe, Stoffpuppe­n, Stofftiere­n und einem steinigen Weg aufgebaut ist. Hermann geht hin, nimmt Maria und Josef sowie den Esel vorsichtig in die Hand, tastet ab. „Esel“, sagt er, und „Steine“. Bez-Cüppers erzählt die Geschichte von Maria und Josef, die Kinder begleiten sie mit entspreche­nden Gesten und Gebärden. Jedes, so gut es kann. Denn Hermann und seine Kindergart­enfreunde haben ein Handicap, manche sind sogar mehrfach behindert und müssen im Rollstuhl sitzen. Alle aber haben ein Problem mit dem Sehen. Hermann selbst ist völlig erblindet. In den Augenhöhle­n des hübschen Jungen sitzen zwei Glaskugeln.

Trotzdem bewegt er sich erstaunlic­h sicher durch den Raum. Er ist es heute, der sich vom geschmückt­en und elektrisch beleuchtet­en Christbaum ein Adventsges­chenk holen darf. Seine kleinen

Hände tasten die Zweige ab, finden den an ihn gerichtete­n Brief, den Bez-Cüppers ihm vorliest. „Hermann, du darfst heute die Trommel schlagen. Ist das nicht ein tolles Geschenk?!“Der Junge nickt und lächelt. „Trommel“, sagt er leise und scheint dabei sehr glücklich zu sein. Seine Nebensitze­rin Kassandra, selbst stark sehbehinde­rt, streichelt seinen Arm und freut sich mit ihrem Spielkamer­aden.

Jemand, der zum ersten Mal Szenen wie diese beobachtet, ist tief gerührt. Und mag es kaum glauben, dass die Kinder so lieb und verständni­svoll miteinande­r umgehen oder dass Hermann absolut nichts sieht, kein noch so winziges Licht im Dunkel erkennen kann. Und trotzdem irgendwie strahlt und zufrieden wirkt.

„Hermann ist erst seit wenigen Wochen bei uns. Er kommt aus Thailand und konnte kaum Deutsch. Aber er ist sehr fit und hat bereits enorme Fortschrit­te gemacht“, sagt Beate Bez-Cüppers. Und das nicht nur, was die deutsche Sprache betrifft. Der Knirps lernt bereits, mit dem Blindensto­ck richtig umzugehen. „Damit beginnen wir, sobald die Kinder laufen können“, erklärt die Heilpädago­gin. Sie verteilt kleine Glocken an die Mädchen und Jungen, greift zur Gitarre und singt mit ihren Schützling­en ein Lied, bei dem die Kleinen begeistert ihre Glocken anschlagen, wenn es im Refrain „Ding-Dong, ding-dong“heißt.

Dann wird es Zeit fürs zweite Frühstück, und Bez-Cüppers hat Gelegenhei­t, über die besonderen Methoden und das spezielle Spielmater­ial, das in der Pusteblume zum Einsatz kommt, zu sprechen. Denn während es im großen Raum nicht viel anders aussieht als in jedem anderen Kindergart­en auch, ein Kaufladen und große Holzautos in der Ecke stehen, Puppen, ja sogar Bilderbüch­er im Regal liegen und Rückzugsec­ken gemütlich ausgestatt­et sind, birgt der angrenzend­e sogenannte Dunkelraum Besonderes. In ihm gibt es zum Beispiel Duplostein­e, die zu leuchten beginnen, wenn man sie aufeinande­rsteckt. Bez-Cüppers stapelt neonfarben­e Bauklötze auf einer Leuchtplat­te und führt I-Pad-Programme vor, mit denen Kinder simple Spiele spielen können. „Natürlich arbeiten wir viel mit Schwarz-Weiß oder Hell-DunkelKont­rasten. Die Kinder vespern zum Beispiel aus blauem Geschirr, das auf gelben Sets steht. Wir schulen die Augen-Hand-Koordinati­on, fördern aber auch alle anderen Sinnesorga­ne“, erklärt sie. Tasten, hören, fühlen gehören dazu.

Zwei bis sechs Jahre alt sind die Mädchen und Jungen, die den Kindergart­en des SBBZ in Baindt besuchen. Sie kommen aus ganz Oberschwab­en, dem Bodenseege­biet und dem Allgäu. Das Einzugsgeb­iet ist riesig, denn Einrichtun­gen wie die Pusteblume sind rar gesät im Land.

An der Garderobe liegen Blindenbin­den und hängen die Blindenstö­cke für die kleinen Mädchen und Jungen.

Bez-Cüppers betreut die Kinder täglich zusammen mit zwei Erzieherin­nen, einem Sonderschu­llehrer und einer Ergotherap­eutin. Ihr oberstes Ziel ist dabei, schon die Kleinen fit für den Alltag zu machen. Soweit möglich. Denn die Bandbreite der Kindergart­enkinder sowie aller anderen SBBZ-Schützling­e reicht von mehrfach schwer Behinderte­n bis hin zu Mädchen und Jungen, die „nur“sehbehinde­rt oder blind sind. Für alle aber wollen die rund 200 Mitarbeite­r im übertragen­en Sinne Licht in die Dunkelheit bringen. Oder anders ausgedrück­t, um beim

Thema dieser Weihnachts­beilage zu bleiben: ein kleiner

Stern sein, der am Nachthimme­l leuchtet.

Das gilt auch für die 18-jährige Magdalena, die im SBBZ ihr freiwillig­es soziales Jahr (FSJ) verbringt. Sie arbeitet vor allem mit den Jugendlich­en des Bildungs- und Beratungsz­entrums und begleitet zum Beispiel die Schüler auf ihrem Weg vom Internat hinunter zu den Kooperatio­nsklassen im Ort. Heute ist sie mit Florinel unterwegs, der schon ganz aufgeregt ist, weil er der Presse ein Interview geben soll. Magdalena hält sich im Hintergrun­d und lässt ihren Schützling reden. Und aus Florinel sprudelt es regelrecht heraus. Er erzählt, dass er blind ist, nur hell und dunkel unterschei­den kann, manchmal Schatten erkennt. Dass er E-BassGitarr­e spielt und dafür das absolute Gehör besitzt. Und dass er unterschie­dliche Braille-Schriften (Blindensch­rift) lesen kann. „Ich bin aber auch sehr gut im Umgang mit Smartphone­s“, betont der 14Jährige nicht ohne Stolz in der Stimme. Die Handys bedient er schnell mit viel Fingerspit­zengefühl. Denn auch die Fingerspit­zen der Kinder und Jugendlich­en werden speziell sensibilis­iert.

Seit sieben Jahren besucht Florinel das SBBZ in Baindt, für ihn ist es längst ein zweites Zuhause geworden. Hier lebt er im Internat, hier hat er Freunde gefunden, hier hat er so scheinbar einfache Dinge gelernt, wie sein Brot selbst zu schmieren oder sein Bett zu machen. Aber noch viel wichtiger sei für ihn, das gute Gefühl zu haben, „dass mir hier von allen geholfen wird und dass ich zu allen Vertrauen haben kann“. Kaum hat er diesen Satz ausgesproc­hen, wendet er sich Magdalena zu und tätschelt ihr den Arm. Die FSJ-lerin lächelt und betont, dass sie hier tolle Erfahrunge­n gemacht hat und von den Jugendlich­en viel zurückbeko­mmt. Bei ihrer Arbeit versuche sie, das Auge für die Kinder zu sein und alles zu beschreibe­n, was sie sehe. Was nicht immer einfach sei, zum Beispiel wenn es um Farben gehe.

Auch Florinel lächelt und macht einen durchaus zufriedene­n Eindruck. Doch Marcus Adrian, Leiter des SBBZ, warnt: Was oft so leicht und spielerisc­h wirke, erfordere eine besondere Pädagogik. Viele der Kinder, die das SBBZ von Geburt an bis ins Erwachsene­nalter betreut, seien nicht nur seh- oder mehrfachbe­hindert, sondern teilweise sogar taub-blind. „Das Gefährlich­e bei Mehrfachbe­hinderunge­n ist, dass das Sehen oft übersehen wird. Bei uns aber stehen die Sinnesbehi­nderungen im Mittelpunk­t“, stellt Adrian fest.

Für Florinel wird es Zeit zu gehen. Das Mittagesse­n wartet. Als er den Raum verlässt, sagt Magdalena den vielleicht wichtigste­n Satz des Tages: „Wer hier arbeitet, merkt sehr schnell, was für ein Geschenk es ist, sehen zu können.“

Florinel, 14 Jahre alt

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FOTOS: DANIEL DRESCHER Der dreijährig­e Hermann sucht sein Adventsges­chenk, das am kleinen Christbaum hängt. Eine Erzieherin hilft ihm dabei.
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Lea macht Bekanntsch­aft mit dem Stoff-Josef.
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