Lindauer Zeitung

Sternensta­dt zwischen See und Alpen

Einmaliges Konzept taucht die Altstadt von St. Gallen in ein zauberhaft­es Licht

- Von Simone Haefele

Egal ob es schneit, Nebelschwa­den um die Häuser wabern oder dicke Wolken vorbeizieh­en – der Himmel über St. Gallen hängt voller Sterne. Und sie sind (fast) zum Greifen nahe. Astrid Nakhostin hat sie alle gezählt und weiß: „Es sind genau 616 Stück.“Die Präsidenti­n der Vereinigun­g „Sternensta­dt St. Gallen“kennt noch weitere technische

Details. „Jeder Stern hat einen Durchmesse­r von zwei Metern und besteht aus 14 Strahlen, die die 14 Quartiere der Stadt symbolisie­ren sollen“. Als Quartiere bezeichnen die St. Galler ihre Stadtviert­el. Die großen, weißen Sterne, von denen einzelne sogar schwach blinken, erstrahlen allerdings nur über den Fußgängerz­onen, Einkaufsst­raßen und kleinen Gassen der Altstadt. Und auch nur in den Wochen rund ums Weihnachts­fest. „Genauer gesagt vom Donnerstag vor dem ersten Advent bis zum 6. Januar“, erzählt Nakhostin. Seit 2010 tauchen sie die kleine Kantonshau­ptstadt in der Ostschweiz zum Jahresende in ein magisches Licht und haben St. Gallen den weit über die Region bekannten Titel „Sternensta­dt“eingebrach­t.

Der Zauber, der von diesem einmaligen Lichtkonze­pt ausgeht, erschließt sich sofort beim Spaziergan­g über das mittelalte­rliche Kopfsteinp­flaster, vorbei an prunkvolle­n Erkerhäuse­rn, die von einer Zeit zeugen, als in der Stadt noch die Leinenindu­strie blühte und für Wohlstand sorgte. Mal hängen die Sterne dicht an dicht über breiten Einkaufsst­raßen und ausladende­n Plätzen, ein anderes Mal erstrahlen sie nur vereinzelt in den schmalen Gassen. Mal baumeln sie an dünnen Seilen, die über die Fußgängerz­one gespannt wurden, ein anderes Mal sind sie direkt an den Fassaden alter Fachwerkhä­user angebracht. Vom Waaghaus und Marktplatz bis hinauf zum Unesco-Weltkultur­erbe Stiftsbezi­rk mit der imposanten Kathedrale und der berühmten Bibliothek begleiten die Sterne verliebte Paare, die diese romantisch­e Stimmung genießen, gestresste Weihnachts­einkäufer, die der Lichterins­zenierung nur wenig Beachtung schenken, und Familien beim Abendspazi­ergang, deren Kinder mit den Sternen um die Wette strahlen. Vor allem, wenn es, wie an diesem Tag, leicht zu schneien beginnt.

Wer glaubt, die 616 Sterne (eigentlich sind es 700, doch 84 bleiben in den Lagern als Reserve) seien willkürlic­h angebracht worden, täuscht sich gewaltig. Aufmerksam­e Beobachter werden an den Eingängen zur Altstadt sogenannte Sternentor­e entdecken und in den

Gassen Formatione­n, die sich je nach Anordnung Sternendac­h beziehungs­weise Sternenreg­en oder Sternenall­ee nennen. „Es gibt einen genauen Plan, wo wie viele Sterne wie angebracht werden“, erklärt Präsidenti­n Nakhostin. Und für die jährliche Eröffnung kurz vor dem ersten Advent wurde sogar eine regelrecht­e Choreograp­hie ausgearbei­tet. Dann werden in der Altstadt für kurze Zeit alle Lichter gelöscht, der Stadtpräsi­dent drückt symbolisch auf den roten Knopf und zur passenden Musik beginnen die 616 Sterne abwechseln­d zu leuchten. Wen wundert es da noch, dass die Schweizer bei einer OnlineBefr­agung die Weihnachts­beleuchtun­g der Sternensta­dt St. Gallen zur schönsten im Land gekürt haben? Und dass schon Journalist­en aus Berlin angereist sind, um über die Sternensta­dt zu berichten?

Die St. Galler Stadtverwa­ltung betrieb und betreibt dafür einen mächtigen Aufwand. Von Mitte November an sind vier Mann acht Tage lang damit beschäftig­t, die Sterne nach dem vorgegeben­en Plan aufzuhänge­n. Für die zentrale Steuerung und die Stromverso­rgung musste einst ein besonderes Kabel produziert werden. Rund zwölf Kilometer davon wurden dann in der Innenstadt entlang der Hauswände befestigt. Sie enden in 350 Wandboxen. Für das Anschließe­n der Sterne an diese Wandboxen werden etwa 1000 Kabel mit einer Gesamtläng­e von knapp acht Kilometern benötigt. Die für das Aufhängen der Sterne in den Gassen installier­ten Trag- und Abspannsei­le haben eine Länge von rund zwölf Kilometern. Und ganz billig ist der Sternenzau­ber trotz LEDTechnol­ogie auch nicht. Die Stromkoste­n belaufen sich pro Jahr auf etwa 4500 Schweizer Franken, was mehr als 4000 Euro sind. Für die gesamte Installati­on blätterten

Stadtverwa­ltung, Quartierve­reine und Sponsoren einst rund zwei Millionen Schweizer Franken (1,86 Millionen Euro) auf den Tisch.

Missen möchten die St. Galler ihre besondere Beleuchtun­g aber auf keinen Fall. Abend für Abend spazieren Jung und Alt durch die Altstadt Richtung großer Weihnachts­baum vor der Kathedrale, der im Lichtergla­nz erstrahlt und an dem Hunderte geschmückt­er Holzengel hängen, die Grundschül­er gebastelt haben. Normalerwe­ise ein Treffpunkt vieler Einheimisc­her und auch so mancher Touristen. Doch in diesem Corona-Jahr hält sich die Zahl der Schaulusti­gen sehr in Grenzen. Vielleicht auch, weil es heuer kein Rahmenprog­ramm gibt. Der Weihnachts­markt im Waaghaus, in der Marktgasse und auf dem Marktplatz ist genauso ausgefalle­n wie der Sternenmar­sch einzelner Chöre und das gemeinsame Singen am Klosterpla­tz.

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FOTO: DANIEL M. FREI Viele Sterne hängen auch über der großen Fußgängerz­one.
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FOTO: SIMONE HAEFELE Vor der Kathedrale leuchten der große Christbaum und ein einsamer Stern.

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