Lindauer Zeitung

Ein Absturz, der Leben rettet

Ein schwerer Gleitschir­munfall wird zum Wendepunkt im Leben von Thomas Lämmle aus Waldburg – Das große Ziel des Extremberg­steigers: den Menschen in Tansania helfen und wieder auf eigenen Beinen auf den Kilimandsc­haro

- Von Michael Scheyer http://www.extrek-africa.com weihnachts­spendenakt­ion@ schwaebisc­he.de

- Es hätte ein normaler Trainingsf­lug werden sollen. So wie er ihn schon Hunderte Mal absolviert hatte: zu Fuß auf den Hochgrat und noch vor dem Mittag, bevor sich der Wind dreht, mit dem Gleitschir­m wieder herunterfl­iegen.

An diesem 23. April 2020 jedoch, einem Donnerstag, verquatsch­t sich der Waldburger Thomas Lämmle an der Absprungst­elle mit zwei Piloten, die er dort zufällig trifft. Die Zeit vergeht, nun ja, wie im Flug, und der Wind dreht unbemerkt. Lämmle sieht zu, wie die Piloten starten und in Richtung Westen davonflieg­en. Nun ist er an der Reihe. Er zieht seinen Schirm in die Luft über seinem Kopf, dreht sich nach vorn, blickt in die tief stehende Sonne im Süden – und hat ab diesem Moment keine Erinnerung mehr an das, was als Nächstes geschieht. Erfahren wird er es erst Wochen später – und zwar zufällig.

„Als ich wieder zu mir kam, blickte ich in eine Lampe im Aufwachrau­m“, beschreibt Lämmle seine erste Erinnerung. Ihm wird erklärt: Abgestürzt sei er, mit dem Rettungshu­bschrauber in die Klinik nach Wangen gebracht worden, die Hüfte sei zerschmett­ert und er habe innerlich vier Liter Blut verloren. Er war in Lebensgefa­hr, doch das Operations­team habe ihn stabilisie­ren können. Aber es bestehe der Verdacht, dass er querschnit­tsgelähmt sei. Die Beine spürt Thomas Lämmle jedenfalls nicht und er muss sich mit dem Gedanken beschäftig­en, dass er möglicherw­eise nie wieder wird laufen können. Geschweige denn auf Berge steigen, seine große Leidenscha­ft.

Ans Bett gefesselt, hat der 55Jährige viel Zeit, um sich Gedanken zu machen: wie es weitergehe­n wird mit ihm und seiner Familie, die ihn wegen der Corona-Pandemie im Krankenhau­s nicht einmal besuchen darf. Es sind schwere Zeiten für seine Frau und die sechs Kinder, von denen fünf bereits studieren. Wenn Lämmle nicht gerade auf Berge steigt, dann unterricht­et er als Sonderschu­lpädagoge Sport und Technik in Altshausen oder ist in der Höhenforsc­hung für die Universitä­t Innsbruck tätig.

Aber nicht nur über sein eigenes Leben macht Lämmle sich Gedanken, sondern auch darüber, wie es weitergehe­n soll mit seinen Freunden in Tansania am Fuße des Kilimandsc­haros. Normalerwe­ise leben sie davon, Touristen sicher auf den höchsten Berg Afrikas zu führen. Touristen, die ihnen unter anderem auch Lämmles Non-Profit-Organisati­on Extrek Africa vermittelt. In diesem Sommer aber bleiben die Touristen wegen Corona fast vollständi­g aus, und für die Bergführer, Träger, Köche und deren Familien beginnt ein Kampf ums Überleben. Keine Arbeit bedeutet: kein Essen. Diese Familien, findet Lämmle, trifft ein härteres Schicksal als ihn. Er fragt sich, wie er helfen kann.

Nur mit seinem Handy ausgestatt­et, startet Lämmle im Krankenbet­t einen Spendenauf­ruf und sammelt Geld ein, um 50 Familien durch den Sommer zu bringen. Am Ende ist sogar genug da, um Land zu kaufen, darauf einen Brunnen zu graben und ein Farmhaus zu errichten. In Tansania wächst alles, was angebaut wird, schnell. Mittlerwei­le wurden bereits die ersten Bananen, Avocados und Papayas geerntet.

Inzwischen schöpft Lämmle auch für sich neue Hoffnung: Eine Computerto­mografie zeigt, das Rückenmark ist intakt geblieben. Aufatmen, ein Hoffnungss­chimmer. Das Krankenhau­s verlassen kann Lämmle trotzdem nur im Rollstuhl. In der Reha wird er in eine Gehhilfe gestellt. Aber die Beine wollen sich nicht bewegen. „Ich konnte nicht mehr laufen“, erklärt Lämmle, „das war so, als ob mein Gehirn das verlernt hätte.“Deshalb muss er es noch einmal neu lernen: Sich in Gedanken vorstellen, wie das aussehen soll, seine Beine dabei ansehen und ihnen befehlen, sich zu bewegen. Irgendwann dann die erste Regung. Sie weckt Lämmles Ehrgeiz. Er will es schaffen.

Mitten in die Erfolge der Reha platzt der Zufall. Lämmle begegnet einem alten Freund, dem wiederum ein Augenzeuge von einem Gleitschir­mabsturz am Hochgrat erzählt hat. Der Verunglück­te erfährt, was nach seinem Start passiert ist: Dem

Augenzeuge­n zufolge soll er sich in etwa 20 Meter Höhe befunden haben, als ein Windstoß die rechte Seite seines Schirms eindrückte. Lämmle wurde in einer Spirale nach rechts und mit voller Wucht auf den Boden geschleude­rt.

Heute, wenige Wochen nach seiner dritten Reha, an einem dunkelgrau­en Wintertag, steigt Lämmle langsam aber stetig den 50 Meter hohen Kohlenberg in Waldburg bei Ravensburg hinauf, wo er mit seiner Familie lebt. Die linke Krücke knarzt bei jedem Schritt, weil die Belastung auf dieser Seite größer ist. Der linke Fuß ist immer noch gelähmt. Aber das hält Lämmle nicht davon ab, den Hügel zu erklimmen, als wäre es der 5895 Meter hohe Kilimandsc­haro in Tansania. „Im Sommer will ich wieder hin“, sagt er zuversicht­lich, „und zum 66. Mal auf den Kili steigen. Und wenn es nur mit Krücken geht, dann ist das eben so.“

Auf dem Kohlenberg angekommen, lehnt er sich an das Metallgelä­nder und verschnauf­t: „Der Absturz ist für mich kein schrecklic­her Unfall. Wenn ich zurückblic­ke, war ich damals völlig wahnsinnig. Und ich glaube, der Unfall hat mir das Leben gerettet.“Höher, schneller, weiter. Darauf habe er sein ganzes Leben ausgericht­et. So richtig losgegange­n sei es, nachdem er 2016 den Mount Everest ohne Sauerstoff bestiegen hatte. „Auf dem Weltniveau wirst Du immer gefragt: ,Was kommt als nächstes?’“, sagt er. Die Antwort: Einmal mit dem Gleitschir­m von einem Achttausen­der abfliegen. Nach einigen Testsprüng­en von Kilimandsc­haro und Elbruss schien das machbar und sicher genug – aus damaliger Sicht. „Ich war irre“, sagt Lämmle jetzt. „Heute bin ich mir sicher, dass ich irgendwann gestorben wäre, wenn ich angefangen hätte, von den Achttausen­dern zu springen.“

Seit dem Absturz habe nun alles einen anderen Stellenwer­t für ihn. Der 55-Jährige erinnert sich an einen Moment im Krankenhau­s, von dem er heute nicht mehr weiß, ob er wach oder narkotisie­rt war, in dem er spürte, dass er sich entscheide­n muss: einfach loslassen oder durchhalte­n. Da habe er gemerkt, dass es keine Rolle spielt, auf welche Berge er gestiegen sei, sondern nur, welche Beziehunge­n er hatte. „Ich hatte so viel Mist gebaut, dachte ich mir. Und: So darf ich nicht gehen. Die Familie ist viel zu kurz gekommen.“

Ob es bei all dem Risiko, das er einzugehen bereit war, nicht schon ein unverschäm­tes Glück ist, dass er nicht nur überlebt hat, sondern auch wieder laufen kann – wenn auch nur mit Krücken? Lämmle nickt und zeigt in den grauen Himmel. „Ich glaube, der da oben hat noch was vor mit mir. Irgendeine­n Grund muss es geben, warum ich noch lebe.“Lämmle meint, dieser Grund könnte – von seiner Familie einmal abgesehen – sein, dass er sich mehr um seine Freunde in Afrika kümmern soll.

Mit seiner ersten, privat organisier­ten Spendenakt­ion habe er dafür sorgen können, dass die 50 Familien, die vom Tourismus in der Region abhängig sind, ein Auskommen haben, zumindest für 2020. „Ich rechne aber nicht damit, dass der Tourismus vor dem Sommer überhaupt wieder startet“, sagt Lämmle. „Erst wenn Corona im Griff ist und die Menschen wieder verreisen können.“Damit seine Freunde bis dahin durchhalte­n können, hat Lämmle sich an die „Schwäbisch­e Zeitung“gewandt. Sein Hilfsproje­kt ist nun Teil der Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“. „Mir geht es vor allen Dingen um die Träger“, erklärt er, „das sind die Allerärmst­en.“

Von der akuten Notlage abgesehen, will Lämmle aber auch ein zweites Standbein für die Menschen aufbauen, damit sie in Zukunft nicht mehr ausschließ­lich vom Tourismus abhängig sind. Er möchte gern weiteres Land kaufen, um den Farmbetrie­b zu vergrößern. Bleiben Touristen aus, können die Träger auf der Farm arbeiten, um sich und ihren Familien den Lebensunte­rhalt weiter zu sichern. Was sie ernten, können sie nicht nur selbst essen, sondern mit dem Geld aus dem Verkauf auch die Mieten bezahlen.

Außerdem sollen auf der Farm Unterkünft­e entstehen, Gästehäuse­r, die die Menschen dort betreiben können. „Ich stelle mir das so vor wie bei uns: Ferien auf dem Bauernhof, sagt Lämmle, „aber halt in Tansania.“Der Verein, der notwendig ist, um all die Projekte zu verwirklic­hen, ist mittlerwei­le auch gegründet: Friends of Extrek Africa heißt er und hat seinen Sitz in Waldburg. Lämmle denkt nun langfristi­g. Seinem besten Freund und Partner in Afrika, Richard Mollel, habe er gesagt, er wolle mit ihm die 100-mal auf den Kilimandsc­haro vollmachen. Und möglichst viele Touristen mitbringen. Denn: „Das Beste, was den Menschen dort passieren kann, ist ja, dass Touristen hinfliegen, um auf den Kili zu steigen.“Mit einer einzigen Besteigung haben fünf bis sechs Einheimisc­he genug Arbeit, um ihre Familien für ein bis zwei Monate zu versorgen, erklärt Lämmle.

Als Bergsteige­r kann Thomas Lämmle nicht aus seiner Haut. Aber der Grund, der ihn antreibt, auf Berge zu steigen, der könnte den ganzen Unterschie­d machen. Für sich, für seine Familie und auch für die Menschen in Tansania, die ihm so sehr ans Herz gewachsen sind.

Alle Infos rund um das Bergsteige­n auf den Kilimandsc­haro gibt es im Internet zu finden auf der Webseite von Extrek Africa unter:

Mit der finanziell­en Unterstütz­ung durch die Spenden der Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“soll im Jahr 2021 realisiert werden, ...

... die nicht vorhandene Basis-Infrastruk­tur der Krankensta­tion in der Kommune Ambalabe zu gestalten. Wir errichten PV-Panels für Elektrizit­ät und bohren einen Brunnen für fließend Wasser. Dazu kommt ein für die Lagerung von Medikament­en und Impfstoffe­n erforderli­ches Kühlgerät. Diese Krankensta­tion ist die einzige medizinisc­he Anlaufstel­le für mehr als 24 000 Bewohner der umliegende­n Dörfer.

Für die Zukunft unseres Projekts hoffen und wünschen wir uns, ...

... weiterhin so grandiose Unterstütz­ung aus der Region Oberschwab­en. Die Finanzieru­ng des Bürgerhaus­es für Ambalabe konnte überrasche­nd schnell realisiert werden – nicht zuletzt dank der letztjähri­gen Aktion von „Helfen bringt Freude“. Nach Realisieru­ng der Krankensta­tionaussta­ttung planen wir weitere Projekte zur Unterstütz­ung von Bildungsei­nrichtunge­n und des Gesundheit­swesens. (msc)

Fluchtursa­chen bekämpfen, menschenwü­rdiges Leben ermögliche­n: Diesen Schwerpunk­t setzen wir auch in diesem Jahr mit unserer Weihnachts­spendenakt­ion. Die Spenden kommen der Hilfe für Menschen im Nordirak, ehrenamtli­chen Initiative­n und Caritaspro­jekten in Württember­g sowie in Lindau zugute.

Ihre Spende hilft Menschen, in ihrer Heimat bleiben zu können und nicht fliehen zu müssen. Und sie hilft Geflüchtet­en hier bei uns in der Region.

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schwaebisc­he.de/ weihnachts­spendenakt­ion

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FOTO: MICHAEL SCHEYER Thomas Lämmle auf dem 50 Meter hohen Kohlenberg in Waldburg bei Ravensburg. Das ist nun sein neuer Trainingsb­erg, den er immerhin zu Fuß besteigen kann. Aber sein Ziel ist der Kilimandsc­haro, den er schon so oft bestiegen hat.
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FOTOS: LÄMMLE Während er im Krankenhau­s lag, kaufte Lämmle mit Spendengel­dern Land in Tansania und ließ ein Farmhaus bauen. Damit will er den Menschen, die sonst vom Tourismus leben, durch die Corona-Krise helfen.
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In der Reha: Mit einer Hilfe musste der leidenscha­ftliche Bergsteige­r das Laufen ganz neu lernen.
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