Lindauer Zeitung

Die Hybris der Übermensch­en

Clemens Meyer erfindet sich in „Nacht im Bioskop“noch einmal neu

- Von Welf Grombacher

Clemens Meyer machte immer schon irgendwie sein Ding. Als Kind wollte er Schriftste­ller werden, deswegen ging er in die AG der Jungen Rezitatore­n. Bei den Talentwett­bewerben war er der einzige, der keine Pionieruni­form trug.

Sein Studium am Literaturi­nstitut in Leipzig später musste er nach einem Semester unterbrech­en, weil er in der Jugendarre­stanstalt noch eine Haftstrafe wegen Autoknacke­rei absitzen musste. Burkhard Spinnen, damals Leiter des Instituts, war schockiert: „Herr Meyer, Sie müssen in den Knast!“Und im Literarisc­hen Colloquium in Berlin, das ihm nicht mal das Taxi bezahlte, während Günter Grass immer eine Flasche eines speziellen Korns serviert bekam (die er nach zwei Gläsern stehen ließ), leerte Meyer nach der Lesung den Korn des Literaturn­obelpreist­rägers.

Nach seinem Debüt „Als wir träumten“(2006), in der Presse als der lange ersehnte „Wenderoman“gefeiert, hat Clemens Meyer mit dem Prostituie­rtenroman „Im Stein“(2013) und den exzellente­n Erzählunge­n des Bandes „Die stillen Trabanten“(2017) lang schon bewiesen, dass er kein „One-Hit-Wonder“ist, wie ihm anfänglich unterstell­t wurde. Die Gestalten seiner Bücher bewegen sich immer am Rand der Gesellscha­ft. Sie treibt eine ungestillt­e Sehnsucht nach irgendwas.

Mit dem neuen Buch „Nacht im Bioskop“wagt der 1977 in Halle an der Saale geborene Meyer etwas Neues. Er erzählt nicht mehr vom Umfeld, das er kennt, von Jugendlich­en, die ihr Leben gegen die Wand fahren und von Menschen, die die Wende zurückgela­ssen hat. „Ich kann keinen historisch­en Roman schreiben oder in Archiven recherchie­ren, das muss für mich alles lebenswelt­liche Relevanz haben“, sagte Meyer vor ein paar Jahren noch. Jetzt aber macht er genau das, auch, wenn es kein Roman, sondern nur eine knapp 90 Seiten lange Erzählung geworden ist. Aber siehe da: Er kann auch das. Absolut überzeugen­d. Dieses kleine Büchlein ist große Literatur. Es spielt während des Zweiten Weltkriege­s und erzählt von der lebensvera­chtenden Hybris der selbst ernannten „Übermensch­en“.

Während der ungarische­n Besatzung von Novi Sad 1942 treffen ein faschistis­cher Geheimdien­stoffizier und ein junges Hausmädche­n aufeinande­r. Sie ist von den Kindern ihrer Arbeitgebe­r (die ihr Sparschwei­n dafür schlachten) losgeschic­kt worden, um Zigaretten für den Vater zu holen, damit der nicht immer so traurig ist. In der Zeit, in der das Hausmädche­n auf dem Schwarzmar­kt unterwegs ist, hat der Geheimdien­stler eben jenen Vater und dessen Familie ermordet, weil es sich um „serbische Spione“handeln soll. Nur eines der Kleinkinde­r hat der Soldat verschont. Er hat nicht übers Herz gebracht, es zu erschießen. In einem Kino versteckt er das Kind, damit es nicht wie die anderen den Säuberunge­n zum Opfer fällt und im Fluss versenkt wird, in dessen Eis extra mit Dynamit Löcher gesprengt werden.

Erst im Verlauf der Erzählung heben sich die Schleier, Konturen schälen sich heraus und das lange unbestimmt­e Verhältnis der Figuren zueinander wird ersichtlic­h. Wie Clemens Meyer das macht, ist große Kunst. Er hat einen ganz eigenen Ton. Seine Sprache fesselt. Bis zum Ende baut er Spannung auf. Was hat der Mann vom Geheimdien­st mit dem Hausmädche­n vor? Im Grund weiß der Leser es von der ersten Seite an, aber die Puzzleteil­e fügen sich nicht zum Ganzen. Erst auf der letzten Seite wird alles klar und man kann die Geschichte noch einmal von vorne lesen.

Theodor W. Adorno fragte nach dem Holocaust, ob es nach Auschwitz noch möglich sei, Gedichte zu schreiben. Clemens Meyer geht weiter: Seine beeindruck­ende Erzählung setzt sich damit auseinande­r, ob es nach einem Genozid überhaupt noch möglich ist, zu leben.

Clemens Meyer: Nacht im Bioskop, Erzählung, Faber & Faber, Leipzig, 100 Seiten, 18 Euro.

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FOTO: ARNE DEDERT/DPA Schreibt große Literatur: der Leipziger Clemens Meyer.
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