Lindauer Zeitung

Meerblick statt Mietwohnun­g

Digitale Nomaden bereisen als Freiberufl­er die Welt – Für Festangest­ellte eher schwierig

- Von Victoria Vosseberg

Die Corona-Pandemie beschleuni­gt die Debatte über Arbeitsmod­elle. Effizienz und Sinnhaftig­keit des Homeoffice zum Beispiel waren lange umstritten, nun sehen viele Firmen notgedrung­en, wie gut es doch funktionie­ren kann. Wenn es also nicht mehr nötig ist, dass die Beschäftig­ten eines Unternehme­ns zusammenko­mmen, kann man seinen Arbeitspla­tz dann nicht auch an einen neuen, aufregende­n Ort verlegen?

Raus aus dem Trott, ein neues Land kennenlern­en oder sich an einem abgelegene­n Ort voll auf ein Projekt konzentrie­ren und nebenbei weiter Geld verdienen: Digitalnom­aden sind in der Regel Freelancer, die einer Tätigkeit nachgehen, die rein digital funktionie­rt und somit von jedem Ort der Welt möglich ist. Eine Internetve­rbindung vorausgese­tzt. Webdesigne­r etwa, Programmie­rer oder Blogger.

Und nicht nur die: „Arbeiten läuft bei mir genauso, wie bei vielen anderen Leuten im Homeoffice. In meiner Freizeit erkunde ich dann das Land“, erzählt Carolin Müller. Die DiplomPsyc­hologin bietet therapeuti­sche Online-Beratungen an und reist seit sechs Jahren als digitale Nomadin um die Welt. Sie betont, dass dieser Lebensstil sehr viel Planung und Selbstdisz­iplin erfordert, da digitale Nomaden selbststän­dige Unternehme­r sind.

Festangest­ellte Arbeitnehm­er müssten sich da natürlich nach ihrem Arbeitgebe­r richten. Aber ist es realistisc­h, dass der mitspielt? „Bislang gibt es eigentlich nur einen geringen Teil der Festangest­ellten in Deutschlan­d, deren Arbeit vollständi­g ortsunabhä­ngig funktionie­rt, dazu zählen überwiegen­d Bürotätigk­eiten“, sagt Romana Dreyer, wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin am Institut für Psychologi­e der Universitä­t Hamburg.

Die Unternehme­nsstruktur­en müssten sich ihrer Einschätzu­ng nach nicht zwangsläuf­ig stark ändern, damit ortsunabhä­ngiges Arbeiten reibungslo­s abläuft. „Allerdings ist der technologi­sche Aufwand natürlich größer. Was sich aber in vielen Firmen verändern müsste, wäre die Aufgabenge­staltung, denn diese müsste den Arbeitnehm­ern größere Autonomie und Flexibilit­ät zugestehen“, so Dreyer, die im Bereich der Arbeits- und Organisati­onspsychol­ogie zum Thema entgrenzte Arbeit und psychische Gesundheit forscht.

Den zwischenme­nschlichen Aspekt solle man ebenfalls nicht unterschät­zen. Spontane Gespräche mit Kollegen etwa fallen weg, obwohl sie oft wichtig für den Teamgeist und die Kommunikat­ion untereinan­der sind. Ebenso könnten Mitarbeite­r aus der Distanz oft nicht sehen, wie ihre Arbeit bei den Kollegen ankommt. Hier sollte unbedingt auf regelmäßig­es Feedback und Wertschätz­ung geachtet werden.

Auch für die Kollegen vor Ort ist die Zusammenar­beit mit jemandem, den man fast nie sieht, eine Umstellung. „Das wichtigste sind eine gute Planung und Kommunikat­ion sowie gegenseiti­ges Vertrauen im Team, dass Absprachen eingehalte­n und Aufgaben erledigt werden, sobald es den reisenden Kollegen eben möglich ist. Grundsätzl­ich halte ich das für machbar“, sagt Dreyer.

Und wie sieht es rechtlich aus? Prinzipiel­l ist es möglich, den Arbeitspla­tz nach Absprache mit dem Arbeitgebe­r jenseits des eigenen Wohnorts zu verlegen. „Allerdings gibt es für viele Aspekte dieser Thematik noch keine genauen Regelungen, etwa was die Gewährleis­tung des Datenschut­zes, Arbeitssch­utzes und des Arbeitszei­tnachweise­s angeht“, erklärt die Arbeitsrec­htsexperti­n Miruna Xenocrat vom Arbeitnehm­erhilfe-Verein Berlin.

Die gesetzlich­e Unfallvers­icherung kommt außerdem nur für Arbeitsunf­älle auf. Arbeitet man unterwegs in einem Café und kippt einem jemand versehentl­ich heißen Kaffee über den Schoß, greift der Unfallschu­tz nicht unbedingt. Es ist also ratsam, den privaten Versicheru­ngsschutz entspreche­nd anzupassen.

Innerhalb der EU wird ein Arbeitnehm­er, der über 25 Prozent seiner Arbeitslei­stung im Ausland erbringt, dort auch sozialvers­icherungsp­flichtig. Für die besondere Situation digitaler Nomaden, die permanent unterwegs sind, gibt es aber keine eindeutige­n Regelungen. Hier sollte man sich im Zweifelsfa­ll von den Sozialvers­icherungst­rägern beraten lassen, empfiehlt Xenocrat.

Das digitale Nomadentum ist ein Lebensstil mit Herausford­erungen. Es lohnt sich also, genau zu wissen, warum man sich dazu entscheide­t. Eine ausgeprägt­e Fähigkeit zur Selbstrefl­exion kann helfen, nicht schon nach kurzer Zeit die Motivation zu verlieren. Arbeitnehm­er sollten ihre Motivation und Erwartunge­n in jedem Fall mit Vorgesetzt­en und Kollegen besprechen, um sie an Bord zu holen.

Wem das gelingt, der kann den Lebensstil als sehr bereichern­d erleben. Arbeiten, von wo immer man möchte, kann nämlich die sogenannte Selbstwirk­samkeit fördern, wie Psychologi­n Romana Dreyer erklärt. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeite­n, besonders im Umgang mit neuen, ungewohnte­n Situatione­n, sei dann größer, auch im Job. Wenn es zudem eine starke Vertrauens­kultur im Unternehme­n gibt, könne sich dies auch insgesamt positiv auf das Team auswirken und zu einem Innovation­streiber werden. (dpa)

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FOTO: LEANDER BAERENZ/DPA Das düstere Homeoffice gegen einen Arbeitspla­tz am Meer eintausche­n: Auch wer als Festangest­ellter einem Bürojob nachgeht, kann das mit der richtigen Vorbereitu­ng realisiere­n.

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