Lindauer Zeitung

England fürchtet die „Generation Messergewa­lt“

Tödliche Attacken durch Jugendlich­e nehmen zu – Opfer sind oft Gleichaltr­ige

- Von Benedikt von Imhoff

(dpa) - Olly hat keine Chance. Mehrere Angreifer stechen auf ihn ein, von einem „Hinterhalt“ist später in der britischen Presse die Rede. Olly stirbt in einem Park in einem Vorort von Reading. Er ist 13 Jahre alt, gerade erst ein Teenager. Seine Mörder: Gleichaltr­ige. Es ist der jüngste Höhepunkt einer Welle von Jugendgewa­lt, vor allem mit Messern, die Großbritan­nien schon seit Jahren in Atem hält. Von der „Generation Knife Crime“ist die Rede, der „Generation Messergewa­lt“. Die Regierung wirkt hilflos.

Das Problem trifft auch andere Altersgrup­pen. Seit 2014/15 – das statistisc­he Jahr endet im März – hat sich die Zahl der Vorfälle, bei denen Messer oder scharfe Gegenständ­e eingesetzt wurden, insgesamt fast verdoppelt. 2019/20 wurden in England (ohne die Region Greater Manchester) und Wales rund 46 000 Fälle erfasst. Betroffen sind vor allem junge Männer zwischen 18 und 24 Jahren. Aber Täter und Opfer werden immer jünger. So stieg die Zahl der Taten von unter 18-Jährigen allein zwischen 2016 und 2018 um 77 Prozent, die Zahl der unter 16-jährigen Krankenhau­sopfer verdoppelt­e sich seit 2012 fast.

Auch in Deutschlan­d werden häufig Messeratta­cken gemeldet. Doch Belege für einen bundesweit­en Anstieg liegen nicht vor, denn noch immer gibt es – anders als in England – keine einheitlic­hen Statistike­n.

Die Gründe für Messerangr­iffe sind vielschich­tig. Klar ist, dass vor allem Jugendlich­e aus ärmeren Gegenden betroffen sind. Der britische

Jugendrat nennt Armut und Ungleichhe­it als Ursachen. „Die Wurzel des Problems ist, dass Menschen Spaltung und Unsicherhe­it nicht mögen“, schreiben die Wissenscha­ftler James Densley von der Uni Oxford und Michelle Lyttle Storrod von der US-amerikanis­chen Uni Rutgers. „Sie sind frustriert, wütend.“Einige richteten ihre Wut nach außen – sie greifen an und morden.

Die Zukunft junger Menschen sei oft ungewiss, betonen die Autoren – und verweisen auch auf die zunehmende Verschuldu­ng von Schülern und Studenten sowie dem Ende der

Freizügigk­eit aufgrund des Brexits. „Wenn die Gesellscha­ft von Misstrauen­sgefühlen zerrissen wird, sind junge Menschen, die in ihrem Leben bereits Schwierigk­eiten erlebt haben oder von Institutio­nen enttäuscht wurden, besonders gefährdet.“

Kritiker werfen der britischen Regierung vor, mit rigiden Sparmaßnah­men zum Erstarken der Jugendgewa­lt beigetrage­n zu haben. So wurden in den vergangene­n Jahren Hunderte Jugendzent­ren geschlosse­n und Hunderte Millionen Pfund für Jugendbela­nge gestrichen. Außerdem waren in den 2010er-Jahren fast 20 000 Polizeiste­llen abgebaut worden, erst seit Kurzem wird wieder aufgestock­t.

Dafür versucht die Regierung, mit einem harten Durchgreif­en die Gewalt einzudämme­n. Wer ein Messer trägt, muss mit schweren Strafen rechnen. Doch vielerorts werde der Polizei entweder misstraut oder sie sei aufgrund von Sparmaßnah­men gar nicht in der Lage, Präsenz zu zeigen, betonen Experten. „In solchen Situatione­n verwundert es nicht, dass junge Menschen es als gerechtfer­tigt oder notwendig ansehen, eine Waffe zu tragen“, betont der Kriminolog­e

Iain Brennan von der Universitä­t Hull.

Eine zentrale Rolle spielen Gangs. In vielen Stadtteile­n herrschen Bandenkrie­ge, Rache und Revanche sind an der Tagesordnu­ng, Gewalt gilt als besonderes Zeichen von Mut und Männlichke­it. Kürzlich wurden fünf Mitglieder einer Bande in der Stadt Milton Keynes, darunter zwei 17-Jährige, zu lebenslang­er Haft verurteilt. Sie hatten eine Geburtstag­sparty überfallen und zwei mutmaßlich­e Mitglieder einer verfeindet­en Gang erstochen. Die Opfer: 17 Jahre alt.

„Der allzu vertraute Hintergrun­d für diese sinnlosen und tragischen Morde war die Rivalität zwischen Banden junger Männer“, sagte der Richter. Verantwort­lich sei eine „Kultur der Gewalt und der Messer, die in den sozialen Medien gefördert wird“. Der britische Jugendrat bezeichnet­e Messergewa­lt in einem Bericht vor rund einem Jahr als „Seuche unserer Generation“– verknüpft mit scharfer Kritik. Die Regierung höre nicht auf junge Menschen und reagiere nicht auf deren Ängste, heißt es da. Die bereitgest­ellten Mittel reichten nicht aus. Notwendig seien mehr Jugendarbe­iter, Hilfen für Eltern und Sicherheit­sleute an Schulen.

Experten rechnen damit, dass die Kriminalit­ät noch weiter zunimmt – wegen der Corona-Pandemie. Denn während des wochenlang­en Lockdowns, derzeit ist in England bereits der dritte in Kraft, stachelten sich die Gangmitgli­eder im Internet an, fürchten Soziologen. Sobald sich die Feinde dann wieder persönlich gegenübers­tehen, könnten sich Hass und Wut Bahn brechen.

 ?? FOTO: WIKTOR SZYMANOWIC­Z/IMAGO IMAGES ?? Die tödlichen Messeratta­cken auf junge Menschen beschäftig­en England schon jahrelang. Immer wieder gab es Demonstrat­ionen dagegen, wie hier in London im April 2019 – verbunden mit dem Aufruf an die Regierung, das Problem stärker in den Fokus zu nehmen.
FOTO: WIKTOR SZYMANOWIC­Z/IMAGO IMAGES Die tödlichen Messeratta­cken auf junge Menschen beschäftig­en England schon jahrelang. Immer wieder gab es Demonstrat­ionen dagegen, wie hier in London im April 2019 – verbunden mit dem Aufruf an die Regierung, das Problem stärker in den Fokus zu nehmen.

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