„Das Gewalt-Muster ist noch das gleiche“
Roswitha Ziegerer hat 37 Jahre lang das Frauenhaus in Kempten geleitet
- Als der Verein „Frauen helfen Frauen“1983 ein Frauenhaus eröffnen wollte, kam Roswitha Ziegerer gerade aus Großbritannien zurück. Mit einer Organisation der Friedensbewegung war sie nach Nordirland gekommen, hatte auf der Insel dann aber in mehreren Frauenhäusern gearbeitet. Also bewarb sie sich für die Einrichtung in Kempten. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Nun gibt die 65-jährige Sozialpädagogin die Leitung des Frauenhauses nach 37 Jahren ab. Im Interview mit Kerstin Schellhorn erzählt sie, warum sich das Selbstverständnis von Männern und Frauen ändern muss
Wann sind Sie mit dem Thema Frauenrechte in Berührung gekommen?
Ich war im Studium an der Frauenbewegung interessiert. Aber das Thema Gewalt gegen Frauen war weit weg. Ich habe eher zu denen gehört, die dachten, so schlimm kann es nicht sein. Wenn eine Frau geschlagen wird, wird sie den Mann verlassen. Ich war genauso naiv wie der Rest der Welt.
Die Arbeit in Großbritannien hat Sie dann eines Besseren belehrt?
Ja, in England war die Organisation „Women’s Aid“(Frauenhilfe) schon seit 1971 etabliert. Es gab weit über 100 Frauenhäuser. Bei uns war das erst im Entstehen. Mir wurde dort klar, in welche Abhängigkeiten Frauen verstrickt sind und wie schwierig es für sie oft ist, aus einer Gewaltbeziehung auszubrechen.
Wie wurde das Frauenhaus in der Stadt aufgenommen?
Ganz viele haben gedacht: „Gewalt gegen Frauen im Allgäu kann ich mir nicht vorstellen.“Ich glaube, unser erstes Haus wurde uns zur Verfügung gestellt, um uns zu beweisen, dass es gar nicht notwendig ist. Und dann war es aber natürlich ganz anders. Wir hatten vom ersten Tag an unglaubliche Belegungszahlen. Frauen waren bereit, eng zusammenzurücken – Hauptsache sie hatten einen sicheren Platz gefunden. 1983 war es gerade ein paar Jahre her, dass es das „böswillige Verlassen“nicht mehr gab.
Was ist darunter zu verstehen?
Wenn Frauen ihre Männer verlassen haben und die Unzumutbarkeit der Ehe nicht beweisen konnten, war es „böswilliges Verlassen“. Das heißt, Sie hatten enorme Probleme, ihre Kinder mitzunehmen und mussten damit rechnen, keinerlei Unterhalt zu bekommen. Deshalb war es für viele Frauen nicht vorstellbar, aus einer Ehe auszubrechen.
Ist das immer noch so?
Rechtlich hat sich viel verändert. Das Gewalt-Muster ist aber immer noch das gleiche: „Wenn du mich verlässt, siehst du keinen Pfennig, nehme ich dir die Kinder weg, bringe ich mich um, bringe ich dich um.“Das höre ich immer noch jedes Jahr. Die Vorstellung, dass Frauen Eigentum sind, dass sie benutzt werden dürfen, ist in den Köpfen noch sehr verwurzelt.
Das klingt nicht sehr optimistisch.
Ich denke, wir sind einen großen Schritt vorwärtsgekommen. Durch die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen) ist Deutschland verpflichtet, etwas zu unternehmen. Es fließen seitdem eindeutig mehr Gelder. Aber so lange sich die Grundhaltung nicht ändert, kann die Gewalt nicht aufhören. Gewalt muss in allen Köpfen geächtet sein wie Kannibalismus.
Müsste sich da in der Erziehung von Buben etwas ändern?
Ja, aber auch in der Erziehung von Mädchen. Wenn es nach mir ginge, wäre das Thema in den Schulen.
Was können Frauen tun, um kein Opfer von Gewalt zu werden?
Es fängt damit an, wie ich in eine Beziehung reingehe. Frauen haben oft ein starkes Bedürfnis, Mann und Kinder zu versorgen. Eigene Berufsund Karrierepläne ordnen sie dem unter. Wenn es dann schiefgeht, stehen sie erstmal ohne alles da. Dabei verlieren mit der üblichen Rollenaufteilung nicht nur Frauen eine Karriere, Männer verpassen auch viel, was sie als Väter einbringen könnten. Und beide leben es, dass Macht und Geld dem Mann gehört. Es bräuchte ein anderes Selbstverständnis.
Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben aus den 37 Jahren?
Ich habe viele Sachen erlebt, die mich geprägt haben und ich habe unzählige Frauen in verzweifelten Situationen getroffen. Tiefst berührt hat mich etwa ein Junge, der sich mit der Axt vor seine Mutter gestellt hatte, um sie zu schützen. Das Schöne war aber immer wieder, dass Frauen gekommen sind, die den Mut hatten, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.
Das Frauenhaus hat sich mittlerweile vergrößert. Haben Sie das Gefühl, dass Sie jetzt gut aufgestellt sind?
Ziegerer: Wir haben jetzt sieben Plätze. Ich glaube, das wäre gut genug für den Einzugsbereich Kempten-Oberallgäu – wenn der Wohnungsmarkt nicht so gnadenlos wäre. Ein großer Teil unserer Frauen will sich tatsächlich trennen, ist aber auf finanzielle Hilfe vom Jobcenter angewiesen. Und da gibt es wirklich gar nichts auf dem freien Wohnungsmarkt. Das muss sich dringend ändern.