À la carte
Speisekarten geben spannende Einblicke in die Kulturgeschichte der Gastronomie
Sie ist eher ein Stiefkind der kulturhistorischen Forschung, die Speisekarte, doch das hat sie nicht verdient. Speisekarten sind spannende Zeugnisse der Ess- und Trinkkultur, aber auch der Geschichte des Designs. Archäologische Funde belegen, dass schon auf sumerischen Tontafeln aus dem dritten Jahrtausend vor Christus Speisen angeboten wurden. Hinweise existieren auch, dass assyrische Gastwirte im zweiten vorchristlichen Jahrtausend ihr Tagesmenü auf Tontafeln geritzt und diese vor die Türe gestellt haben. Von den alten Griechen und Römern überlieferte Speisefolgen gelten als Indiz dafür, dass es auch in der klassischen Antike bereits Speisekarten gegeben hat.
Speisekarten in der heute üblichen Form kennt man freilich erst seit dem späten 18. Jahrhundert. Dem Wiener Gastwirt Josef Merina wird die Erfindung zugeschrieben. Er soll
D1784 in seiner Wirtschaft Zum roten Apfel den Gästen erstmals einen handgeschriebenen „Kuchenzeddl mit Tariffen“auf den Tisch gelegt haben, sozusagen die Ur-Speisekarte. Dieses Ereignis war der Wiener Gastronomie 1884 sogar eine besondere Jubiläumsfeier wert. Bis sich die Speisekarte umfassend verbreiten konnte, vergingen allerdings noch viele Jahre. Die Speisenangebote in den Wirtshäusern waren bis weit ins 19. Jahrhundert hinein so übersichtlich, dass es genügte, sie den Gästen auf einer Tafel im Gastraum zur Kenntnis zu bringen – eine Tradition, die heute in manchen Szenelokalen wieder auflebt.
Zu einer ersten Blüte kam die Speisekarten-Kultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in der Belle Epoque, weitgehend beschränkt allerdings auf die noblen, meist großstädtischen Restaurants. Die von den Besitzern mit der Gestaltung der Speisekarten beauftragten Künstler malten phantasievolle Umschläge, wählten elegante ass die deutsche Sprache da am schönsten ist, wo sie an den Rändern gen Wahnsinn hin verschwimmt, wusste schon der unvergessene Kurt Tucholsky. Welche irrsinnigen Gebilde aber entstehen, wenn internationale kulinarische Spezialitäten durch eine handelsübliche InternetÜbersetzungsmaschine gedreht werden, beherzt gewürzt mit orthografischer Fantasie, hätte wohl selbst er sich nicht träumen lassen.
Axel Hacke hat allerhand kuriose Appetithappen zusammengetragen, die aufmerksame Restaurantgäste in aller Welt aufgegabelt haben – von „Gerüchten aus dem Wok“bis zu „Überbackenen Oberbegriffen“. Hm, da schnalzt nicht nur der Oberstudienrat leise mit der Zunge. In seinem Büchlein „Oberst Huhn bittet zu Tisch“serviert der Kolumnist die Speisekarten-Stilblüten in einem mehrgängigen Menü. Und es geht dabei nicht darum, die Fehlerhaftigkeit anzuprangern. Oh nein. „In dem, was wir auf diesen Speisekarten lesen“, so Hacke, Schriften für die Texte und ließen diese auf feine Papiere drucken und in veredelte Kartons binden, manchmal auch in Leder oder Holz. Bei Sammlern sind diese Stücke besonders begehrt, nicht nur ihres ästhetischen Reizes wegen, sondern auch weil sie dokumentieren, welche kulinarischen Köstlichkeiten damals in den höheren Kreisen angesagt waren.
Ganz so aufwendig gestaltet sind die Speisekarten hierzulande nur noch selten. In anderen Kulturen wird diese Kunst aber noch gern gepflegt. Das gilt vor allem für Luxushotels in China, deren Speisekarten nicht selten wahre kalligrafische Meisterwerke sind – ganz im Gegensatz zu den USA, wo die Speisekarten auch in besseren Häusern oft der nüchternen Zweckmäßigkeit der Fast-Food-Gastronomie à la McDonald‘s oder Pizza Hut entsprechen.
Die Speisekarte soll den Gast über das aktuelle Angebot des Restaurants informieren und ihn zur Bestellung animieren. Sie ist damit auch ein Werbemittel. Aber darüber hinaus hat sie auch juristische Funktionen. So verpflichtet die Preisangabenverordnung die Gastwirte zur Auslage von Preisverzeichnissen für die angebotenen Speisen und Getränke. Die Zusatzstoff-Zulassungsverordnung verlangt, dass die Zusatzstoffe auf den Speise- und Getränkekarten genannt werden. Die Angaben über die Qualität der auf der Karte angebotenen Speisen müssen auch richtig sein. Sind sie es nicht, liegt eine Täuschung nach dem Lebensmittelgesetz vor.
Im Alltag der normalen deutschen Gasthäuser spielt die SpeisekartenKultur keine große Rolle mehr. Die Tageskarten sind in ihrer Gestaltung meist auf ihren praktischen Aussagewert reduziert. Deutlich mehr Mühe geben sich aber die Wirte bei Speisekarten zu besonderen Anlässen, wie Hochzeiten, Geburtstagen, Jubiläen oder Weihnachtsfeiern. Restaurants der gehobenen
„offenbart sich uns das Deutsche auf eine ganz neue Weise, von jedem Sinn und allem Ballast irgendeiner Bedeutung befreit, als reiner Klang und voller Witz.“Und damit ist es ihm ernst.
Beginnen wir mit leichter Kost: Was „gefühlte Tomaten“sind, wird sich mancher noch erschließen – füllen oder fühlen, wer vermag das immer treffsicher zu unterscheiden? Und dass „Hühnerklumpen“die einzig wahre Bezeichnung ist für Chicken Nuggets, wird wohl keiner abstreiten, der je welche gegessen hat.
Aber was mag wohl auf den Teller kommen, wenn „Schweinsgetöse“auf der Karte steht? Oder etwas asiatischer: „Feng Shui vom Schwein“? Welche schillernde sprachliche Vielfalt ein einziges Gericht aufweisen kann, zeigt Küchenmeister Hacke am Beispiel Rumpsteak: Selbiges gibt es nämlich als Rumsteck, Rum-Steak, Ruhm-Steak, Rumpf-Steak, rumsteg, rumpfsteck, Rummsteack und, besonders lecker,
Klasse und exklusive Hotels legen freilich auch im Alltag großen Wert auf gut gestaltete Speise- und Getränkekarten. Wenn dann auch noch die Tischdekoration auf das Design der Speisekarte abgestimmt ist, ist das kleine Gesamtkunstwerk perfekt.
Eine Besonderheit sind die sogenannten Damenkarten, bei denen – wie bei den meisten Karten für besondere Anlässe – die Preise fehlen. Der Kellner legt sie der Dame vor, die in Begleitung eines Herrn ins Restaurant gekommen ist. Die Damen sollen sich ohne Beeinflussung durch die Preisangaben für die Speisenfolge entscheiden. Diese spezielle Form der Speisekarte befindet sich allerdings auf dem Rückzug. Die Frau des 21. Jahrhunderts wünscht eine solche Sonderbehandlung meist nicht mehr. Sie empfindet die Damenkarte als ein Relikt aus galanter Zeit, durch das sie sich eher diskriminiert als geschmeichelt fühlt.
Rumms-Tejk. Gerne mit Kreuta. Oder waren es Krojter?
Wem da die Wahl schwerfällt, greift besser zu Fisch und Meeresfrüchten, wir empfehlen hier namentlich „Frisches Filet des zur Vollkommenheit versengten Heilbutts“. Grillfreunde wissen, wovon die Rede ist. Oder wunderbar frittierte „Cala Marie Ring’s“. Ohne Knoblauch, aber mit Apostroph.
Und zum Dessert etwas für Süßschnäbel, for the sweet mouths under us. Vielleicht einen „Fräser im Zucker“? Aber wer will schon einen zerschnipselten Zerspanungsmechaniker zum Nachtisch. Selbst wenn dieser sich banal als „fraise“, also Erdbeere, entpuppen sollte – ich nehm von den französischen Süßigkeiten doch lieber ein „Erklär“. Mhm.
Axel Hacke: Oberst von Huhn bittet zu Tisch. Speisedeutsch für Anfänger. Verlag Antje Kunstmann, 2012.
112 Seiten, 14 Euro.