ZF schließt Standort in Kressbronn
250 Entwickler ziehen ins FEZ um – Mitarbeiterzahl in Friedrichshafen bleibt 2020 stabil bei 9750
- Elf Prozent weniger Umsatz, ein Verlust nach Steuern von 741 Millionen Euro – dass Wolf-Henning Scheider, Vorstandsvorsitzender der ZF, bei der Bilanzpressekonferenz am Donnerstag keine allzu rosigen Zahlen für das abgelaufene Jahr 2020 vorlegen konnte, hat niemanden überrascht. Wohl aber die Mitteilung, dass der Konzern ab 2023 seinen Entwicklungsstandort in Kressbronn aufgeben wird. Es werde aber keinen Arbeitsplatzabbau geben. Weil sich der Nutzfahrzeugmarkt gut entwickle, sind die Aussichten für den Standort Friedrichshafen laut Scheider insgesamt gut.
Mehr als 3000 Entwickler beschäftigt ZF am Bodensee, rund 250 Mitarbeiter davon in Kressbronn. Sie arbeiten an Antrieben für Pkw. Das werden sie auch künftig tun, allerdings spätestens ab Anfang 2023 im Forschungs- und Entwicklungszentrum (FEZ) in Friedrichshafen. Dies schaffe „funktionale Nachbarschaften und Synergien zwischen Abteilungen, die bereits seit Langem eng zusammenarbeiten“, so der Konzern. Zudem vermindere die Verlagerung das Verkehrsaufkommen zwischen den beiden Standorten. Das Grundstück an der Argenstraße soll anschließend verkauft werden.
„ZF ist ein wichtiger Arbeitgeber in der Region und auch in der Gemeinde. Dass der Konzern den Standort in Kressbronn auflöst, ist sehr schade und wird von der Gemeinde sehr kritisch betrachtet“, teilt Bürgermeister Daniel Enzensperger auf SZ-Anfrage mit. Und weiter: „Viele Kressbronner arbeiten am Standort, die jetzt nach Friedrichshafen
fahren müssen. Leider waren jegliche Überzeugungsversuche der Gemeinde zur Erhaltung des Standortes ohne Erfolg.“
Für das Grundstück am westlichen Eingang zur Gemeinde komme in der Nachfolge ausschließlich eine gewerbliche Nutzung infrage. Dies soll dem Bürgermeister zufolge auch durch einen Bebauungsplan klargestellt werden, der bereits in der Aufstellung sei.
Für den Produktionsstandort Friedrichshafen bezeichnet ZF-Chef Scheider die Situation als „durchaus stabil“. Die Nutzfahrzeugbranche lege derzeit zu, etwas besser sogar als vom Unternehmen vorausgesehen. Im laufenden Jahr plant der Konzern, am See 143 000 Getriebe für Busse und Lastwagen zu fertigen. Im vergangenen Krisenjahr waren es 134 000, im Jahr 2019 laut ZF 164 000. Die komplette Nutzfahrzeugdivision T, die von Friedrichshafen aus gesteuert wird, hat im abgelaufenen Jahr 369 000 Getriebe produziert. Im Jahr 2021 sollen es 398 000 werden, fast so viele wie 2019.
Bestimmendes Thema für die Division T war die Integration von Wabco. Ende Mai 2020 hatte ZF den Kauf des belgisch-amerikanischen Konzerns endgültig abgeschlossen. Im Laufe des Jahres soll aus den derzeit zwei Divisionen eine werden. Vorstandvorsitzender Scheider: „Wabco erweist sich mit jedem Tag mehr als ‚Perfect Match‘. Wir haben erste gemeinsame Projekte entwickelt und in Kundenaufträge umgesetzt. Und: Von der Zusammenarbeit profitieren wir bereits jetzt bei Produkten, neuen Aufträgen und auch finanziell.“
Kaum verändert hat sich die Mitarbeiterzahl am Konzernsitz. 9750 waren es im vergangenen Jahr, der gleiche Wert wie im Jahr zuvor. 1400 Mitarbeiter sind in der Hauptverwaltung angestellt, 1450 in Forschung und Entwicklung. Für die Division Nutzfahrzeugtechnik arbeiten 4450, für die Division Electrified Powertrain Technology (Pkw-Getriebe und E-Antriebe) 1450. Auf die Industrietechnik entfallen 700 Mitarbeiter, auf die Division Aftermarket 300. Geplant ist laut ZF, dass die Gesamtzahl der Mitarbeiter im laufenden Jahr am Standort Friedrichshafen um 150 sinkt.
Betriebsbedingte Kündigungen sind dabei ausgeschlossen, es gilt die Standort- und Beschäftigungssicherung aus dem „Tarifvertrag Transformation“, der im Sommer 2020 unterzeichnet worden ist. Weil sich auch der Standort am See verändern wird – mehr Elektromobilität, mehr autonomes Fahren, mehr Software, das absehbare Ende der Verbrennertechnologie – haben Konzern und Betriebsrat bereits 2016 eine Standortsicherungsvereinbarung geschlossen. Trotz der Pandemie und ihrer finanziellen Auswirkungen habe man an den dort fixierten Investitionen „im Wesentlichen festgehalten“, sagte ein ZF-Sprecher. In Summe sollen 600 Millionen Euro bis Ende 2022 in den Standort fließen. Aktuell liege der Wert bei über 420 Millionen Euro.
Unterschiedlich stark waren die ZFler von Kurzarbeit betroffen. Die stärkste Phase am Standort Friedrichshafen lag zwischen April und Juni. So waren im Mai laut Unternehmen mit mehr als 6300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern rund 70 Prozent der Tarifbeschäftigten in Kurzarbeit – allerdings mit unterschiedlicher prozentualer Ausprägung. In den Folgemonaten nahm die Zahl der Mitarbeiter in Kurzarbeit
Stück für Stück ab, sodass im Dezember mit rund 750 Mitarbeitern nur noch weniger als zehn Prozent aller Tarifbeschäftigten am Standort Friedrichshafen in Kurzarbeit waren. Hauptverwaltung, Forschung und Entwicklung waren im Dezember komplett ausgenommen.
Einen besonderen Erfolg hat die Division Industrietechnik im abgelaufenen Jahr gefeiert: Das österreichische Unternehmen „Graz Linien“ist der erste Schienennetzbetreiber, der digitale Lösungen für Infrastrukturund Antriebsstrang-Monitoring aus dem Hause ZF einsetzt. Ende des vergangenen Jahres wurden die ersten zehn Straßenbahnen in Graz mit dem neuesten Zustands- und Infrastruktur-Monitoring-System ausgestattet. In einem ersten Schritt liegt der Fokus auf der Erkennung von sogenannten Flachstellen, die eine mögliche Ursache für Lärmbelästigung
TRAUERANZEIGEN
von Fahrgästen und Anwohnern darstellen. Zudem liefert ZF die Basis für vorausschauende Wartungsplanung. „Die Einführung des Infrastruktur- und AntriebsstrangMonitoring-Systems in Graz markiert einen wichtigen Meilenstein und Diversifizierung unseres ZFBahn-Produktportfolios“, sagt Markus Gross, Leiter der Produktlinie Bahnantriebssysteme (IBR).
So wenig überraschend wie der Umsatz- und Gewinneinbruch im vergangenen Jahr dürfte die Höhe der Dividende an die beiden ZF-Eigentümer Zeppelin-Stiftung und Ulderup-Stiftung sein. 18 Prozent vom Gewinn werden nach neuer Berechnungsgrundlage abgeführt. Und 18 Prozent von nichts ist – nichts. In den Planungen für den Haushalt der Stiftung, der am Montag beschlossen werden soll, ist das bereits berücksichtigt.