Verschobene Operationen, nicht benötigte Implantate
Weil Kliniken planbare Eingriffe im Corona-Jahr 2020 aussetzen, sinken die Umsätze des Tuttlinger Medizintechnikunternehmens Aesculap
- Wenn Vorstandschefin Anna Maria Braun ein Sorgenkind in den Sparten des nordhessischen Pharma- und Medizintechnikkonzerns B. Braun benennen müsste, im Jahr 2020 wäre es die Tuttlinger Aesculap AG. „Alle Sparten haben ein gutes Wachstum zu verzeichnen – alle Sparten bis auf Aesculap“, sagte Anna Maria Braun am Donnerstag bei der virtuellen Jahreskonferenz am Stammsitz des Unternehmens im nordhessischen Melsungen. In Zahlen lesen sich die Sorgen der 41-jährigen B.Braun-Chefin, die das Unternehmen ihrer Familie in sechster Generation führt, so: Der Umsatz von Aesculap sank im Jahr 2020 um mehr als elf Prozent auf 1,743 Milliarden Euro. Auch zur Gewinnsituation äußerte sich Braun nicht sehr zuversichtlich. „Die Sparte Aesculap hatte mit ihrer Profitabilität zu kämpfen, aber im Konzern konnten wir das auffangen.“
Die Gründe für die schlechten Zahlen des Tuttlinger Traditionsunternehmens, das seit 1976 zur nordhessischen B.-Braun-Gruppe gehört, liegen in der Corona-Krise – in der Tatsache, dass vor allem in der ersten Welle der Pandemie Krankenhäuser weltweit nicht unbedingt notwendige Operationen nach hinten geschoben haben. „Erst in der zweiten Hälfte des Jahres haben die Operationen wieder ein gewisses Level erreicht“, erläutert Braun. Aesculap hat diesen Rückgang unmittelbar gespürt, das Unternehmen ist schließlich einer der führenden Spezialisten für chirurgische Instrumente und Implantate aber auch für chirurgisches Nahtmaterial und Sterilcontainer.
Kurzarbeit hat Aesculap im vergangenen Jahr nicht beantragt, und auch für dieses Jahr geht Anna Maria Braun nicht davon aus, dass das notwendig sein wird, auch „wenn wir noch sehr weit entfernt sind von dem Vor-Corona-Niveau“, erklärt Braun weiter. Wann eine spürbare Erholung einsetze, hänge daran, wann die Kliniken weltweit wieder in den Normalbetrieb eintreten. „Wir erwarten das frühestens für September oder Oktober“, sagt Braun. Trotz dieser Aussichten strebt B. Braun für seine Tuttlinger Tochter in diesem Jahr wieder ein Wachstum „im niedrigen einstelligen Bereich“an.
Für den Gesamtkonzern, der mit seinen Sparten Hospital Care (Produkte für die Versorgung von Patienten im Krankenhaus – plus 3,5 Prozent),
Out Patient Market (Produkte zur Patientenversorgung außerhalb des Krankenhausbetriebs – plus 5,9 Prozent) und Avitum (Dialyseprodukte – plus 1,0 Prozent) die Erlösverluste von Aesculap ausgeglichen hat, hat Anna Maria Braun ehrgeizigere Ziele. Langfristig soll sich das Umsatzwachstum zwischen fünf und sieben Prozent bewegen und die operative Marge bei 15 Prozent liegen. „Wir müssen als Familienunternehmen solch ein Wachstum schaffen, um die Innovationen der Zukunft stemmen zu können“, erläutert Vorstandschefin Braun.
Klar ist, dass das in einem Jahr, das eine globale Pandemie geprägt hat, nicht zu erreichen war. Der Umsatz ging minimal um 0,6 Prozent auf 7,43 Milliarden Euro zurück. Zu konstanten Wechselkursen gerechnet legte er um zwei Prozent zu. Das bereinigte Konzernergebnis vor Steuern stieg um vier Prozent auf 416 Millionen Euro. Dabei ist für 2019 die Wertberichtigung auf die verkaufte Beteiligung am fränkischen Krankenhauskonzern Rhön-Klinikum herausgerechnet. Die operative Marge (Ebitda) steigerte B. Braun im Jahr 2020 von 14,4 auf 14,9 Prozent. „Wir sind mit diesen Ergebnissen gut durch das Jahr gekommen“, sagt B.-Braun-Finanzchefin Annette Beller. „Das liegt vor allem auch daran, dass wir breit aufgestellt sind – sowohl bei den Produkten als auch bei den Regionen, in denen wir die Produkte verkaufen.“Vor allem die höhere Nachfrage nach Pharmaprodukten zur Behandlung von Covid-Patienten, Infusionspumpen sowie Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln haben die Rückgänge bei Aesculap und den medizinischen Standardprodukten ausgeglichen. Für 2020 rechnet Braun mit einem Umsatzwachstum zwischen drei und fünf Prozent, der Gewinn könnte noch stärker zulegen.
Der neuen Medizinprodukteverordnung, die Ende Mai in Kraft tritt, blickt die B.-Braun-Chefin gelassen entgegen. „Wir haben glücklicherweise eine Größe, dass wir das stemmen können. Bei uns sind alle Sparten zertifiziert.“Was nicht heiße, dass die Arbeit getan sei und die Novelle keine Ressourcen binde. Um die Sicherheit zu erhöhen, verlangt die neue Verordnung, dass ein Großteil der Produkte neu zertifiziert und ihre Wirkung nachgewiesen wird.
Über die Gefahr, dass Produkte von B. Braun oder Aesculap künftig vom Markt verschwinden, muss sich Anna Maria Braun keine Gedanken machen. Über die Situation ihrer Tuttlinger Tochter schon eher.