Notwehr: Messerstecher wird freigesprochen
Kehlener Totschlagsprozess: Landgericht Ravensburg entscheidet zugunsten des 27-jährigen Angeklagten
- Im Prozess gegen einen 27jährigen Asylbewerber, der im Juli 2020 einen 33-jährigen Mann mit 15 Messerstichen in der Anschlussunterbringung Kehlen getötet haben soll, fiel am Mittwoch das Urteil und sorgte für reichlich Verwunderung bei Prozessbeobachtern und Nebenklägervertretern. Denn die fünfköpfige Schwurgerichtskammer unter dem Vorsitz von Richter Veiko Böhm sprach den Angeklagten frei.
Die Staatsanwaltschaft hatte zuvor eine Haftstrafe in Höhe von acht Jahren und vier Monaten wegen Totschlags in einem minderschweren Fall gefordert. Dem folgte die Kammer nicht. Vielmehr sah sie die Merkmale einer Notwehrsituation vorliegen und musste daher zugunsten des Angeklagten entscheiden.
In seiner knapp 40- minütigen Urteilsbegründung, die als Lehrstunde des Leitsatzes „in dubio pro reo“(lat. „im Zweifel für den Angeklagten“) gelten konnte, erklärte Richter Böhm ausführlich die Entscheidung. „Wir haben uns die Sache nicht einfach gemacht. Das ist keine Entscheidung, die wir mit gutem Bauchgefühl und frohen Mutes getroffen haben. Es ist ein menschlicher Wunsch, dass jemand Verantwortung übernehmen muss, wenn jemand gestorben ist“, erklärte er und erinnerte auch an die Vorgeschichte des Falles. Dieser war schon einmal vom Landgericht Ravensburg als Notwehrsituation eingestuft worden, aber nach Widerspruch der Staatsanwaltschaft und auf Anordnung des Oberlandesgerichtes Stuttgart erneut an das Landgericht Ravensburg verwiesen worden. Daraufhin wurde der Syrer wegen Totschlags angeklagt.
„Wir haben uns die Mühe gemacht, alle Zeugen erneut zu befragen. Wir haben alles berücksichtigt.
Wir können nicht mit Genugtuung sagen, wir haben von Anfang an Recht gehabt,“sagte Böhm und betonte aber gleichzeitig: „Die Entscheidung ist bitter, unbefriedigend, aber rechtlich richtig.“Für die drei Richter und zwei Schöffen handelte der Angeklagte in der Nacht zum 1. Juli 2020 in Notwehr. Die Aggression sei eindeutig von dem späteren Opfer ausgegangen. Der 33-jährige Obdachlose hatte den Syrer in der Unterkunft an der Hirschlatter Straße aufgesucht, um sich für eine wenige Tage zuvor durch ihn erlittene Messerbedrohung zu rächen. Laut Zeugenaussagen
habe den Deutschen dieser Vorfall an der Häfler Uferpromenade nicht mehr losgelassen. Er sei „wie besessen“davon gewesen. In der Tatnacht traf er zufällig den Mitbewohner des Syrers am Friedrichshafener Stadtbahnhof und folgte ihm gemeinsam mit einem Freund, um so den Wohnort des Syrers zu erfahren. Während der Zugfahrt bedrängten die beiden recht betrunkenen Männer den afghanischen Asylbewerber und äußerten immer wieder, das Leben des Syrers „ficken“zu wollen. Dabei umwickelte der 33-Jährige drohend seine Faust mit einer massiven, silbernen Kette, was auch auf den Überwachungsfotos aus der BOB- Bahn zu sehen ist. Die Kette wird später neben dem Leichnam gefunden. Daher geht das Gericht davon aus, dass sie als Schlagverstärker vom Opfer genutzt worden war. In der Unterkunft öffnete der Syrer arglos, wie das Gericht meint, auf das Klopfen des Mitbewohners die Zimmertür. „Wie ein Rollkommando“habe sich der 33-Jährige vorbeigedrängt und sich mit erhobenen Fäusten und den Worten „Stirb! Stirb!“auf den Syrer gestürzt. In dem daraufhin entstehenden Kampfgeschehen sticht dieser dann 15-mal mit seinem Jagdmesser zu.
„Alles, was nicht zweifelsfrei ist, muss für den Angeklagten sprechen. Hier ist das Tatopfer der initiale Aggressor. Es ist schlimm, dass er tot ist, aber es gibt keinen rechtfertigenden Grund für das, was er getan hat“, machte Richter Böhm deutlich. Zugleich führte er allerdings auch an, der Angeklagte selbst sei zunächst das größte Hindernis für einen Freispruch gewesen. „Er ist ein notorischer Lügner, ist dissozial und zeigt wenig Empathie. Er ist eine Zumutung für seine Mitbewohner und eine Zumutung für die Polizei in Meckenbeuren. Aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, ordentlich zu prüfen“, erklärte Böhm und spielte auf die Bemerkung des Angeklagten nach der Tat, der Tod des Opfers sei ihm „scheißegal“, an.
Gegen den Angeklagten läuft noch ein weiteres Verfahren, weil er einen Ladendetektiv mit einem Messer bedroht haben soll. Die junge Frau, mit der der Syrer die Tatnacht verbracht hatte und die trotz mehrmaliger Ladung nicht vor Gericht erschienen war, sagte am letzten Verhandlungstag aus. Sie gab an, von dem eigentlichen Kampfgeschehen nichts mitbekommen zu haben und konnte auch sonst wenig zur Aufklärung beitragen.