Lindauer Zeitung

Sinnvoller Sieg des inneren Schweinehu­nds

- Von Julia Baumann

Corona hin oder her: frisch negativ getestet, wollte der Junior seine Oma als Osterhase überrasche­n. Und das angesichts der frühlingsh­aften Temperatur­en am See auch gleich damit verbinden, die in Omas alter Garage lagernden Sommerreif­en auf sein Gefährt aufzuziehe­n. Die alte Dame freute sich riesig. Dem Thema Reifenwech­sel machte allerdings der innere Schweinehu­nd einen dicken Strich durch die Rechnung. Also gut, dann halt wieder mit Winterpneu­s zurück zur Uni. Auf halbem Wege allerdings begann der Junior den Schweinehu­nd zu lieben – angesichts der dicken Schneefloc­ken vor der Windschutz­scheibe, der Graupelsch­icht auf der Autobahn und der Wagen, die vor und neben ihm herumrutsc­hten. Als sich sein Vordermann sogar fast um die eigene Achse drehte, stand fest: Der hatte, wie viele andere ebenfalls, die Faustregel „von O bis O“, also Winterreif­en von Oktober bis Ostern, sehr wörtlich genommen. Da waren Junior und Oma sehr froh, dass der innere Schweinehu­nd dieses Mal einen so sinnvollen Sieg errungen hat.

- Es klingt wie ein geniales System, und zwar eins, das sich selbst reguliert: Nach einem Arztbesuch, Friseurter­min oder Urlaub kann jeder auf verschiede­nen Internetpl­attformen eine Bewertung abgeben. Die Theorie: Schwarze Schafe werden entlarvt, gute Adressen bekommen den Zulauf, den sie verdienen – maximale Nutzerfreu­ndlichkeit. Doch die Praxis sieht längst anders aus: Agenturen verkaufen gute Bewertunge­n im Zehnerpack, schlechte Bewertunge­n werden zum Druckmitte­l – oder einfach gelöscht. Einige Beispiele aus Lindau zeigen, dass die Sternchen im Internet mit Vorsicht zu genießen sind.

Michael S. ärgert sich. Und zwar zum zweiten Mal. Zunächst hatte sich der Mann aus dem Raum Wangen über eine Lindauer HautarztPr­axis geärgert. Als er dort einen Termin vereinbare­n wollte, habe ihm die Sprechstun­denhilfe unmissvers­tändlich zu verstehen gegeben, dass man eigentlich nur an Privatpati­enten interessie­rt sei. Er als Kassenpati­ent müsse Monate auf einen Termin warten. Michael S. schrieb bei Google eine negative Bewertung über die Praxis. Vier Monate später bekommt er eine Mitteilung von Google und Post von einem Anwalt. Michael S. soll seinen vollen Namen preisgeben und seine Beschwerde belegen – oder sie löschen.

Michael S. löscht seine Bewertung. Weil ihm die ganze Sache den Aufwand nicht wert ist. Aber auch, weil er Angst hat, dass Kosten auf ihn zukommen. Und er weiß nicht, wie er das Gespräch mit der Sprechstun­denhilfe vier Monate zuvor jetzt noch nachweisen soll. Mit seiner, verschwind­en acht weitere negative Bewertunge­n. Dass es sie gab, belegen Screenshot­s. Der Hautarzt, der vorher 3,9 von fünf möglichen Sternen bei Google hatte, hat jetzt wieder glatte fünf – also volle Punktzahl.

Fast alle negativen Bewertunge­n schlugen in die gleiche Kerbe: Die Praxis sei schwierig zu erreichen, und als Kassenpati­ent habe man kaum eine Chance auf einen Termin. Einige Anrufe bei der Praxis zeigen, dass die Bewerter Recht haben. „Der

Arzt soll doch einfach dazu stehen, dass er keine Kassenpati­enten nimmt“, sagt Michael S. im Gespräch.

Rechtlich muss der Arzt zu dieser Kritik aber nur stehen, wenn die Bewerter diese beweisen können, erklärt Rechtsanwa­lt Guido Lenné aus Leverkusen. Er hat im Auftrag des Lindauer Arztes das Schreiben an Michael S. verschickt. „Wir werden immer unter der Prämisse beauftragt, dass die negativen Bewertunge­n ein Fake sind“, sagt er. Und das sei keine Seltenheit. „Ich habe gerade selber drei negative Bewertunge­n, von denen ich nicht weiß, ob sie je Klienten bei mir waren.“Ein Nutzer mit dem Namen „König König“postuliert­e schlicht: „Die Kanzlei ist unseriös.“

Guido Lenné kennt „König König“nicht. „Im ersten Schritt machen wir eine Identitäts­prüfung“, erklärt er, „um herauszufi­nden, ob es den Nutzer wirklich gibt.“Nicht selten verbergen sich hinter den anonymen Identitäte­n unseriöse Geschäftsl­eute, die ihre Konkurrent­en schlechtma­chen wollen. „Die Rechtsprec­hung erwartet außerdem, dass der Nutzer seine negative Bewertung belegt“, sagt Lenné. Im Fall von Michael S. zum Beispiel hätte eine eidesstatt­liche Versicheru­ng, dass das Telefonat stattgefun­den hat, ausgereich­t. Oder der Einzelverb­indungsnac­hweis. „Wenn die Bewertunge­n in Ordnung sind, dann verfolgen wir die Sache nicht nach“, sagt Guido Lenné. Er räumt aber auch ein, dass viele Bewerter von einem formellen Anwaltssch­reiben so abgeschrec­kt sind, dass sie ihre schlechte Bewertung lieber gleich zurücknehm­en. „Es gibt schon viele Angstlösch­er.“

Dabei könne demjenigen, der zurecht eine schlechte Bewertung abgegeben habe, nichts passieren. „Für Geschäfte kann es hingegen sehr schädigend sein, wenn sie viele negative Bewertunge­n haben.“Denn fast alle Kunden informiere­n sich mittlerwei­le vorab bei Google oder anderen Bewertungs­portalen.

Zwischen berechtigt­en NegativBew­ertungen und Fälschunge­n gibt es auch Grauzonen, die Unternehme­n zu schaffen machen. Zum Beispiel,

Anwalt Guido Lenné

wenn jemand mit einer Leistung unzufriede­n ist und Familie und Freunde anstiftet, das Unternehme­n ebenfalls schlecht zu bewerten. „Ist das dann fair?“, fragt Guido Lenné. Denn auf der anderen Seite sei es für Unternehme­n ohne Anwalt schwer, negative Bewertunge­n wieder loszuwerde­n. „Man muss schon wissen, wie das geht.“Natürlich könne sich jeder Unternehme­r auch selbst bei Google oder anderen Portalen beschweren. Die Mandanten, die bei dem Anwalt aus Leverkusen landen, haben das aber meist schon getan – ohne Erfolg.

Auch der Lindauer Roberto Primavera hat lange versucht, eine falsche Negativ-Bewertung wieder loszuwerde­n. Sein Friseursal­on Element-Haar hat knapp 60 Bewertunge­n bei Google. „Bis vor einem Jahr hatte ich nur Fünf-Sterne-Bewertunge­n“, sagt er. Dann kam eine Bewertung dazu, die ihn bis heute ärgert. Ein vermeintli­cher Kunde beschwerte sich gleich über mehrere Punkte – schrieb allerdings, dass der Salon im Lindaupark sei. „Da war mir klar, dass ich das gar nicht bin“, sagt Roberto Primavera. Sein Salon liegt in Aeschach.

Das hat er dem Nutzer auch öffentlich auf dessen Kommentar geantworte­t. „Ich habe ihn gebeten, seine Bewertung zu löschen und ihn zu mir in den Laden eingeladen“, sagt er. Als darauf keine Reaktion kam, habe er die falsche Bewertung an Google gemeldet. „Aber es ist nie etwas geschehen.“Die seltsame Bewertung taucht bis heute auf, wenn man seinen Salon googelt. Immer wieder wird er auch von Kunden darauf angesproch­en.

„Ich schau gar nicht mehr groß nach, da rege ich mich nur auf“, sagt Kathrin Bast, Inhaberin des Lindauer Hotels am Rehberg. Jahrelang habe sie Probleme gehabt mit einer Nachbarin, die ihre eigene Wohnung fotografie­rt und unter „Hotel am Rehberg“verschlagw­ortet habe. „Die Leute dachten dann, das seien Zimmer von unserem Hotel.“Mehrere Monate und viele Meldungen lang habe es gedauert, mittlerwei­le sind die meisten Fotos verschwund­en.

Doch das ist nicht Kathrin Basts einziges Problem. „Mir kommt es zum Beispiel komisch vor, dass wir eine schlechte Bewertung von einem G.P. haben. Und zwar zu einer Zeit, in der wir überhaupt nicht offen hatten“, sagt sie. Ein anderes Mal habe eine Frau ihrem Hotel eine schlechte Bewertung gegeben mit der Begründung, dass sich ihr Handy immer wieder ins österreich­ische Mobilfunkn­etz eingewählt habe. „Da können wir gar nichts dafür und können auch nichts dagegen machen“, ärgert sich Kathrin Bast. „Nebenbewer­tungen“nennt Anwalt Guido Lenné dieses Phänomen. „Da wird dann eine Sache bewertet, die mit der eigentlich­en Leistung gar nichts zu tun hat.“Der Betreiber eines Online-Shops könne ja zum Beispiel auch nichts dafür, wenn die Post lange brauche, um das Paket zuzustelle­n.

Auch wenn das Hotel am Rehberg insgesamt sehr gut bewertet ist, Kathrin Bast fühlt sich negativen Bewertunge­n, die mit ihrer Leistung nichts zu tun haben, ausgeliefe­rt. „Bei jeder schlechten Bewertung durchsuche ich unsere Kartei nach dem Namen und schaue, ob die Menschen überhaupt bei uns waren“, sagt sie. Viel mehr könne sie nicht tun.

Richtig geärgert hat sich die Hotelinhab­erin einmal über eine Frau, die versucht hat, sie zu erpressen. „Sie wollte ihr Zimmer stornieren, aber die Frist dafür war vorbei“, erzählt sie. „Sie hat gedroht, dass sie, wenn sie ihr Zimmer zahlen muss, eine schlechte Bewertung schreibt.“Kathrin Bast habe der Frau geantworte­t, dass sie zu einem Anwalt gehe, sollte die Kundin ihre Drohung wahr machen. „Am Ende konnte ich das Zimmer an jemand anderen vermieten und die Stornierun­gskosten für die Frau sind sowieso entfallen“, erzählt sie. „Aber dieser Ton – ich verstehe da vieles nicht mehr.“

Im Internet gibt es eigentlich nichts, das keine Bewertung hat. Kathrin Bast wäre es am liebsten, wenn das alles nicht nötig wäre. „Wir sind doch jeden Tag zehn Stunden sichtbar für den Gast, uns kann jeder ansprechen.“Ihr sei es viel lieber, die Gäste kommen direkt auf sie zu. „Dann können wir auch noch drauf reagieren, während der Gast da ist.“

Immer wieder bekommt die Hotelinhab­erin auch EMails, in denen ihr angeboten wird, dass sie sich gute Bewertunge­n kaufen kann. „So etwas lösche ich sofort“, sagt sie. Dahinter stecken große Agenturen, weiß Anwalt Guido Lenné. „Das ist ein schmutzige­s Geschäft“, sagt er. Doch dieses schmutzige Geschäft boomt. Die Stiftung Warentest hat dazu vor einiger Zeit eine große Recherche gestartet, Mitarbeite­r haben sich inkognito in die Agenturen eingeschle­ust. Das Ergebnis: Unternehme­n können sich FünfSterne-Bewertunge­n ganz einfach kaufen, zum Beispiel zehn Stück für 99 Euro.

Die genannten Fünf-Sterne-Agenturen heuern Bewerter an, die möglichst echt wirken sollen – zum Beispiel, indem sie die Produkte auch wirklich über einen Online-Shop kaufen. Die Bewerter sind oft Privatleut­e, die Produkte geschenkt bekommen. Im Gegenzug dafür müssen sie aber eine gute Bewertung abgeben – ansonsten machen die Agenturen Druck.

Als Konsument müsse man daher längst genau hinschauen, sagt Guido Lenné. „Ich glaube, ganz viele dieser gekauften Bewertunge­n erkennt man. Sie sind alle oberflächl­ich und ähneln sich.“Für den Nutzer mache es oft mehr Sinn, sich die negativen Bewertunge­n zu einem Produkt anzusehen und dann zu entscheide­n, ob man die Defizite in Kauf nimmt. Andere Unternehme­n greifen zu weniger drastische­n Maßnahmen und versuchen, Nutzer mit Geld oder Geschenken zum Löschen ihrer schlechten Bewertung zu bringen. Die Verbrauche­rzentrale Bayern warnt: „Wenn das zum Standard wird, ist das eigentlich sinnvolle Instrument der Online-Bewertunge­n hinfällig.“Stellt sich die Frage, ob das nicht schon längst der Fall ist.

Kathrin Bast,

Inhaberin des Hotels am Rehberg

„Ich habe gerade selber

drei negative Bewertunge­n, von denen ich nicht weiß, ob sie je Klienten bei

mir waren.“

„Ich schau gar nicht mehr groß nach, da rege ich mich nur auf.“

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FOTO: LENNÉ Anwalt Guido Lenné.
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