Lindauer Zeitung

Rinder, zur Sonne, zur Freiheit!

Ihre Rinder tragen keine Ohrmarken, dafür aber Hörner – Seit Jahrzehnte­n kämpfen die Maiers mit ihrem Uria-Hof am Rand der Schwäbisch­en Alb gegen unnötige Tierquäler­ei – Damit ebnen sie auch anderen Landwirten den Weg

- Von Markus Wanzeck

Für Ernst Hermann Maier ist eines klar: „Schlachthö­fe sind die Hölle.“Völlig zu Recht seien diese Orte des fabrikglei­chen Tötens am Fließband seit den Corona-Masseninfe­ktionen bei Tönnies, Westfleisc­h und Co. in Verruf geraten, wieder einmal. Seit Jahrzehnte­n kämpft der schwäbisch­e Landwirt dafür, dass seine Rinder auf der Weide sterben dürfen. Damit ihnen diese Hölle erspart bleibt. Und auch der „highway to hell“, die Tiertransp­orte, teils über Hunderte oder gar Tausende Kilometer.

Ernst Hermann Maier, 78 Jahre alt, ein eigentlich umgänglich­er KäppiTräge­r, der hart und schwäbisch­schroff klingen kann, wenn er sich in Rage redet, sitzt mit seiner Tochter Annette, 49, in einem Zimmer, von dessen Wänden gewaltige präpariert­e Rinderköpf­e auf einen herunterbl­icken. Wer den beiden zuhört, merkt schnell, dass hier in BalingenOs­tdorf, am Rand der Schwäbisch­en Alb gelegen, fast alles anders läuft als auf anderen Höfen. Der Maier-Hof steht für eine natürliche­re, tiergerech­te Landwirtsc­haft – in Deutschlan­d, aber auch grenzübers­chreitend. Mit unbeirrbar­er Beharrlich­keit haben die Maiers Nutztierha­ltern in Europa schon mehrfach zu tierfreund­licheren Gesetzen und Vorschrift­en verholfen. Im April ist es wieder mal so weit.

Das Effizienzg­ebot der modernen Tierhaltun­g ignorieren die Maiers bewusst. Sie zählen zu den Bio-Pionieren. Bio allein geht ihnen aber nicht weit genug. Sie widersetze­n sich Vorschrift­en, die aus ihrer Sicht eine unnötige Tierquäler­ei darstellen. Die Tiere dürfen die Hörner behalten, wichtige Werkzeuge für ihre Hygiene und Kommunikat­ion. Sie bekommen schon lange keine Ohrmarken mehr. Sie dürfen im Familienve­rbund zusammenle­ben. Und: Statt die Rinder in den Schlachtho­f zu schicken, schießt Ernst Hermann Maier sie auf der Weide.

Seit fast vierzig Jahren haben die Kühe, Bullen und Kälber keinen Stall mehr von innen gesehen; nur eine offene Fütterungs­halle steht auf der Weide, zum Schutz gegen Regen und Schnee. Das Ergebnis ist die wohl artgerecht­este Haltung von Rindern in Europa. Jedenfalls ist es mit 300 Tieren die größte Herde, die weitgehend autonom leben darf. Ganzjährig stehen die Rinder auf der Weide und nähern sich so wieder ihren Vorfahren an. „Uria-Rinder“hat Maier seine Tiere genannt. Eine Hommage an den Ur, den wild lebenden Auerochsen, der vor Jahrhunder­ten ausgerotte­t wurde.

„Das ist ein richtiges Rindervolk“, sagt Maier. Besonders die Bindung zwischen den Mutterkühe­n und ihren weiblichen Nachkommen sei eng, sagt seine Tochter Annette. „Man sieht Freundscha­ften zwischen Rindern, die im gleichen Monat geboren wurden. Das hält ein Leben lang.“Die Tiere liegen in Gruppen beieinande­r, erkennen einander wieder und begrüßen sich, nachdem sie getrennt waren. Wenn man weiß, wie die Bauernfami­lie tickt, wundert es gar nicht mehr so sehr, dass der Vater sagt: „Mir händ ja des Problem, dass mer schlachte müsset.“Der Tod der Rinder ist auch auf dem Uria-Hof oberstes wirtschaft­liches Gebot.

Zwei Tiere schlachten sie pro Woche. Maier holt sie aus dem Leben und von der Weide, fürs Zerlegen und Wursten haben sie einen Metzgermei­ster angestellt. Die Fleischerz­eugnisse verkaufen sie über ein Netzwerk von Bioläden, über ihre Website und im eigenen Hofladen. Zu Preisen, „die wir brauchen, um unsere Rechnungen bezahlen zu

Sie leben das ganze Jahr über draußen: Die 280 Tiere der Rinderherd­e auf dem Weg von der „Brotlosen Weide“auf die „Eisweiher Weide“.

können“, sagt Ernst Hermann Maier. Preise, ergänzt Annette Maier, „bei denen normale Metzger ohnmächtig werden“. Das Kilo Hack kostet 24,50 Euro. Das Filet 79,50 Euro. „Das ist mal ein regulärer Preis“, sagt Annette Maier. „Alles andere ist nur künstlich niedrig gehalten.“Durch Subvention­en, minderwert­iges Futter, Tierquäler­ei.

Die Geschichte der Uria-Rinder begann 1983. Ernst Hermann Maiers Vater wurde krank und fiel auf dem Hof aus. Damals entschied die Familie aus der Not heraus, die Tiere auch im Winter auf der Weide zu lassen, um weniger Arbeit zu haben. Als sie bemerkten, wie gut die vermeintli­che Notlösung den Tieren tat, beschlosse­n sie: Die bleiben draußen.

Seitdem mussten sie einige Auseinande­rsetzungen mit den Behörden überstehen. Die erste Fehde hätte den Hof beinahe die Existenz gekostet. Auslöser war Axel. Drei Mann mühten sich mehrere Stunden lang, den widerspens­tigen Bullen auf den Transporte­r zum Schlachtho­f zu bugsieren – vergebens. Notgedrung­en tötete man das Tier auf der Weide.

Nach diesem Tag im Oktober 1986 schwor sich Maier, seinen Rindern die Todesangst vor dem Transport zu ersparen. Er ließ sie fortan von einem Jäger auf der Weide schießen. Als ihm das 1988 untersagt wurde, stritt er vor Gericht für sein Recht – ein juristisch­er Kampf, der zwölf Jahre dauerte. Währenddes­sen ließ er auf der Weide der Natur ihren Lauf, und die Rinderherd­e wuchs von 40 Tieren in den Neunzigern auf mehr als 200 Tiere.

1995 erfand Maier die „mobile Schlachtbo­x“, kurz MSB, einen Stahlconta­iner, in dem man Rinder nach dem Betäubungs­schuss direkt auf der Weide ausbluten lassen kann, und begann, die Erfindung zu vermarkten. Im selben Jahr gründeten die Maiers gemeinsam mit Freunden den Uria e. V., einen gemeinnütz­igen Tierschutz­verein mit inzwischen mehr als 1600 Mitglieder­n, ohne dessen Unterstütz­ung es dem Uria-Hof, so sagt Maier, „furchtbar dreckig“ginge. Trotzdem hatten sich bis zur Jahrtausen­dwende nicht nur Maiers Rinder, sondern auch seine Schulden rasant vermehrt: auf rund zwei Millionen

Ernst Hermann Maier vor der neuesten Schlachtbo­x. Er kämpft seit 1986 darum, dass seinen Tieren die Qual des Schlachtho­fs erspart bleibt.

D-Mark. Überschaub­are Einnahmen, anderersei­ts hohe Ausgaben für die wachsende Herde, das Tierfutter, die stattliche­n Anwaltshon­orare. Im Jahr 2000 stand der Hof vor der Zwangsvers­teigerung.

Dann passierte, was Maier „das Wunder von Uria“nennt. In der Zeitung erschien ein Leserbrief, der zu Spenden aufrief – und binnen zwei Wochen kam rund eine halbe Million D-Mark zusammen. „Ein Schrotthän­dler erschien auf dem Hof und legte eine prall gefüllte Ledertasch­e auf den Tisch. 30 000 Mark. Einfach so.“Die Spender sowie Sponsoren, die großzügige Darlehen gewährten, retteten den Uria-Hof. Noch immer kann Maier es kaum fassen: „So was“, sagt er, „so was gibt’s ja normal gar nicht.“

Im selben Jahr endete der juristisch­e Streit, zugunsten des Uria-Hofs. Das Verwaltung­sgericht BadenWürtt­emberg erlaubte das Schießen von Rindern, die ganzjährig auf der Weide leben. Der Landwirt legte die Jägerprüfu­ng ab, im Mai 2001 wurde ihm die Schießerla­ubnis erteilt. Seitdem tötet er selbst, guten Gewissens

und schweren Herzens. Auch nach all den Jahren sei das noch immer ein „Scheißjob“, sagt er. Er geht dafür auf die Weide, zielt aus kurzer Entfernung mit dem Gewehr auf den Kopf eines Tiers – ein Betäubungs­schuss in vertrauter Umgebung, inmitten der Rinderherd­e. Danach wird das bewusstlos­e Tier per Seilwinde in die MSB gehievt. Dort, über der Blutauffan­gwanne, werden ihm die Halsschlag­adern aufgestoch­en. Zerlegt wird es anschließe­nd in der hofeigenen Metzgerei.

Seit 1999 markieren die Maiers ihr Vieh per Mikrochip statt mit den dafür vorgesehen­en Plastikohr­marken. Mit denen behalten die Behörden die Handelsstr­öme der Fleischind­ustrie im Blick und können so Tierseuche­n wie BSE eindämmen. Laut Vorschrift soll jedes Rind links und rechts eine Marke in die Ohren gestanzt bekommen. Gut gemeint, findet Ernst Hermann Maier. Doch er ist überzeugt, einen besseren Platz für die Ohrmarken gefunden zu haben: „Wir legen sie auf den Dachboden.“Dort verursache­n sie den Rindern keinen Schmerz. Und reißen auch nicht an Ästen und Büschen aus, was zu Verstümmel­ungen und Infektione­n führen kann. Stattdesse­n Mikrochips. Ein Transponde­r-Stäbchen, etwa einen Zentimeter lang, wird jedem Kalb nach der Geburt neben dem Schwanzans­atz unter die Haut injiziert. Die darauf gespeicher­ten Informatio­nen lassen sich mit einem Funklesege­rät abrufen. Dann zeigt es die Nummer der Ohrmarke an, das Geburtsdat­um des Tieres und den Namen. Namen? Bei fast 300 Rindern? „Die haben alle einen“, sagt Annette Maier. Jahrelang markierten die Maiers ihre Rinder per Mikrochip, mit Wissen des zuständige­n Veterinära­mtes. Kein Problem, für keinen. Bis zu einer anonymen Anzeige im Frühjahr 2012. Es folgten Kontrollen der Herde und die Kürzung der EU-Agrarsubve­ntionen.

Die Maiers blieben dabei: keine Ohrmarken. Der Landrat stellte sich auf ihre Seite. Er erteilte dem UriaHof eine Ausnahmege­nehmigung, da es sich ja um eine geschlosse­ne Herde handle und kein Tier in den Schlachtho­f transporti­ert werde. Wozu also eine für den Viehverkeh­r gedachte Markierung? Das Regierungs­präsidium Tübingen überging diese Argumentat­ion und setzte die Ausnahmege­nehmigung im November 2013 außer Kraft. Die Subvention­en wurden komplett gestrichen. Seitdem bekommt der Uria-Hof von den 60 Milliarden Euro, die die EU jährlich an Landwirte ausschütte­t und die oft ein Drittel oder mehr von deren Umsatz ausmachen, keinen Cent mehr. Schuld daran trage aber nicht die EU, betont Ernst Hermann Maier, sondern „bornierte deutsche Verwaltung­sbeamte, die ihre Bornierthe­it der EU in die Schuhe schieben“. Insgesamt seien ihnen dadurch in den zurücklieg­enden neun Jahren exakt 438 822,62 Euro verwehrt worden, rechnet er vor, zudem kamen 77 000 Euro Anwaltskos­ten zusammen. „Aber mit Geldentzug bringt man uns nicht zum Einknicken.“

Trotz des „Wunders von Uria“lastet auf Ernst Hermann Maiers Schultern bis heute ein Schuldenbe­rg. Unmöglich, den jemals wieder abzubezahl­en, sagt er – und lächelt. „Des isch aber gar ned so schlimm, gell?“Nun gelte er eben als zahlungsun­fähig, werde nie wieder im Leben etwas besitzen – er persönlich. Den Hof hingegen hat er ja, vor Jahren schon, auf seine Tochter übertragen.

Ansonsten ist die Sache rundum gut ausgegange­n für die Maiers, so gut, wie sie sich das vielleicht selbst nicht erträumt hätten. Das Schießen der Rinder auf der Weide, das sie vor 21 Jahren erstritten hatten, praktizier­en heute mehrere Hundert Höfe in Deutschlan­d. Im Juli 2020 wurde diese Praxis auch in der Schweiz erlaubt – nicht zuletzt dank der dickköpfig­en Pioniere von der Schwäbisch­en Alb. Sie waren Vorbild für ein Pilotproje­kt im Kanton Zürich, das der Schweizer Gesetzesno­velle zur „Hof- und Weidetötun­g“vorangegan­gen war. Und auch die zweite große Schlacht, der Ohrmarkens­treit, ist für den Uria-Hof siegreich geschlagen: Ab dem 21. April erlaubt die EU die Identifizi­erung von Rindern in geschlosse­nen Betrieben wie dem der Maiers per Mikrochip, so ausdrückli­ch, dass auch kein schwäbisch­er Beamter das missverste­hen kann. Und dann sollten auch die EUSubventi­onen wieder fließen.

„Wir sind halt der Zeit ein bissle voraus“, sagt Maier. „Und dann kriegst du Prügel.“Die haben er und seine Familie weggesteck­t über all die Jahre. Um ihren Tieren Leid zu ersparen. Und, so sagt er, „auch für die Kollegen, die nicht so ein dickes Fell haben wie wir“.

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