Lindauer Zeitung

Per Video zur Therapie

Fehlende Sozialkont­akte, finanziell­e Sorgen und diffuse Ängste machen immer mehr Menschen zu schaffen – Digitale Psychother­apie ist mehr als eine Notlösung

- Von Sandra Markert

Plötzlich verstummt die Frau und starrt auf einen Punkt hinter ihrem Bildschirm. „Was sehen Sie da?“, fragt eine Stimme aus ihrem Monitor heraus. „Eine Spinne“, antwortet die Frau entsetzt. „Gut“, sagt die Stimme, die Susanna Hartmann-Strauss gehört. Die Psychologi­n ist mitten in einer Videothera­piestunde mit einer Patientin, die eine Spinnenpho­bie hat. „In der Praxis müsste ich eine solche Situation künstlich erzeugen, so hilft der Zufall nach und wir können in einer ganz realen Situation und in den eigenen vier Wänden daran arbeiten“, sagt Susanna Hartmann-Strauss, die eine Praxis für Psychother­apie in Calw im Schwarzwal­d betreibt.

Wie fast 90 Prozent ihrer Kollegen behandelt Susanna HartmannSt­rauss ihre Patienten seit Beginn der Corona-Pandemie ganz oder teilweise per Videothera­pie. Noch vor einem Jahr war das der Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer zufolge bei weniger als zehn Prozent der Therapeute­n der Fall. Der persönlich­e Patientenk­ontakt galt gerade in der Psychother­apie lange als unersetzli­ch. „Ich habe das höchstens Mal gemacht, wenn ein Patient krank war oder das Auto nicht angesprung­en ist“, sagt die Psychologi­n Susanna Hartmann-Strauss, die ein Praxishand­buch zur Videothera­pie veröffentl­icht hat.

Aber auch rechtlich-finanziell­e Gründe spielten eine Rolle für das zurückhalt­ende digitale TherapieAn­gebot. Denn bis zum 1. April 2019 konnten Psychother­apeuten Sitzungen per Video nicht als Leistung der gesetzlich­en Krankenver­sicherung durchführe­n. „Seitdem gibt es für Videothera­pien eine grundsätzl­iche Beschränku­ng auf maximal 20 Prozent der Leistungen und Patienten“, sagt Kay Funke-Kaiser von der Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer. Aufgrund der Corona-Pandemie sind digitale Behandlung­en derzeit nun unbegrenzt möglich – und oft auch nötig.

Denn die Zahl der Menschen, die eine Therapie braucht, ist in der Pandemie um 40 Prozent gestiegen, bei Kindern- und Jugendther­apeuten gar um 60 Prozent, berichtet die Deutsche Psychother­apeutenver­einigung. Immer mehr Menschen kommen mit der Dauerangst vor Ansteckung und dem Rückgang von Sozialkont­akten nicht zurecht, das Homeschool­ing nagt an den Nerven und auch finanziell­e Sorgen werden größer und wachsen sich zu echten Existenzän­gsten aus. Behandelt werden unter anderem Angst-Symptomati­ken sowie Depression­en.

„Durch das Video-Angebot melden sich jetzt aber auch Patienten bei mir, die nie den Weg in meine Praxis gefunden hätten, weil sie so starke Ängste haben oder wegen körperlich­en Auffälligk­eiten nicht raus möchten“, sagt Susanna HartmannSt­rauss.

Wenn die Psychologi­n einen neuen Patienten in einer Videositzu­ng begrüßt, geht es zunächst einmal um die richtige Kameraeins­tellung. „Ich möchte ja nicht nur einen riesigen Kopf sehen, sondern auch den Oberkörper und die Arme wegen der Gestik. Und wenn man sich real trifft, hält man ja auch einen gewissen Abstand“, sagt Susanna HartmannSt­rauss.

Sind diese Einstellun­gen für Therapeut wie Patient angenehm und bleibt die Internetve­rbindung stabil, unterschei­det sich eine Video-Sitzung für Hartmann-Strauss nicht groß von einer Behandlung in ihrer Praxis in Calw. „Natürlich merke ich über den Bildschirm nicht, ob jemand mit dem Fuß wippt oder stark nach Schweiß riecht. Aber Nervosität oder Angst sieht man normalerwe­ise auch anhand anderer Dinge“, sagt Susanna Hartmann-Strauss. Viele Patienten seien entspannte­r, wenn sie in ihren eigenen vier Wänden sitzen, statt in der Praxis. Und wer sich sicher fühle, öffne sich auch leichter, was die Therapie vereinfach­t. „Voraussetz­ung dafür ist aber natürlich, dass jemand zu Hause während der Sitzung ungestört ist“, sagt Susanna Hartmann-Strauss.

Patienten, denen diese Privatsphä­re aufgrund beengter Wohnverhäl­tnisse fehlt oder bei denen die Familie nicht die notwendige Rücksicht

nimmt, können auch weiterhin in der Praxis behandelt werden. „Auch für einen Jugendlich­en mit Onlinesuch­t ist es sicher besser, wenn wir uns real treffen, statt noch mehr Zeit am PC zu verbringen“, sagt Susanna Hartmann-Strauss. Gleiches gelte für Menschen mit einem Alkoholpro­blem, deren Fahne man virtuell eben nicht riechen kann.

Die Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer hat in einer Umfrage herausgefu­nden, dass sich fast 90 Prozent der Therapeute­n vorstellen können, auch nach der Corona-Pandemie Videositzu­ngen durchzufüh­ren. „Aber als wichtige Ergänzung, nicht als Ersatz für Behandlung­en“, sagt Kay Funke-Kaiser von der Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer.

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