Schweizer Hängepartie um EU-Abkommen
Geplanter Vertrag mit Brüssel empört viele Eidgenossen – Woran sich unsere Nachbarn stören
- Die Schweizer Regierung hat Ärger mit Europa: An diesem Freitag muss sich Helvetiens Bundespräsident Guy Parmelin auf den Weg nach Brüssel machen, um bei der Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, vorstellig zu werden. Es wird ein Bittgang.
Entzündet hat sich der Streit an dem geplanten Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Der Bundespräsident des EU-Nichtmitglieds will den unterschriftsreifen Vertrag nachverhandeln – die EU hingegen verspürt nach rund sieben Jahren Verhandlungsmarathon mit den Schweizern keine Lust, weiter zu feilschen. Immerhin soll es in der EU-Kapitale sachlich zugehen. „Ich werde nicht Boris Johnson spielen“, versicherte Parmelin gegenüber der Zeitung „Le Matin“.
Anders als der exzentrische britische Premierminister Johnson gilt Parmelin als pragmatischer Brückenbauer. Bundespräsident und Wirtschaftsminister Parmelin, ein jovialer Weinbauer aus dem französischsprachigen Landesteil, wird bei von der Leyen auf die typisch Schweizerische Politik der Konsensbildung setzen. Ob sich die Rivalen einigen, ist laut Beobachtern der Berner Politszene jedoch völlig offen. Viele Abgeordnete des Schweizer Parlaments, wie Franz Grüter, Nationalrat der rechtsnationalen
Schweizerischen Volkspartei (SVP), fordern dagegen unverblümt: „Der Moment ist gekommen, wo dieses Rahmenabkommen beerdigt werden muss.“
Ein Aus der Gespräche käme einer Blamage gleich. Die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Brüssel und Bern würden einen Tiefpunkt erreichen, auf beiden Seiten könnte ein immenser ökonomischer Schaden entstehen. Die EU macht klar: Ohne Rahmenabkommen werden keine neuen Verträge mit der Schweiz über den Zugang zum EU-Binnenmarkt abgeschlossen, etwa über den Erwerb von Strom. Die EU gilt als wichtigster Handelspartner Helvetiens. Nach Berner Regierungsangaben von 2020 gehen 51 Prozent aller Schweizer Exporte in die EU. Rund 69 Prozent ihrer Importe bezieht die Alpenrepublik aus der Union.
Um diese engen Bande weiter zu festigen, verhandeln Spitzenbeamte beider Seiten seit 2014 über das Rahmenabkommen. Seit 2018 liegt ein komplexer Vertragsentwurf vor, unterschriftsreif. Das bisherige Verhandlungsergebnis spiegelt letztlich die Machtverhältnisse zwischen der EU und der Eidgenossenschaft wider: Auf der eine Seite der Staatenbund mit 447 Millionen Einwohnern, auf der anderen Seite die Eidgenossenschaft mit 8,6 Millionen Menschen.
Der Deal soll übergreifende Fragen in fünf bisherigen und zukünftigen Wirtschaftsabkommen beantworten. So wird bestimmt, wie die Schweiz EU-Recht übernimmt. Doch die Schweizer Regierung will, nicht zuletzt aufgrund innenpolitischen Drucks, Nachbesserungen erreichen, etwa bei Lohn- und Arbeitnehmerschutz. Zündstoff bergen auch die Fragen, wie und wann EU-Bürger, die in der Schweiz leben, in den Genuss von Sozialleistungen und eines dauerhaften Aufenthaltsrechts kommen können.
Das geplante „Institutionelle Abkommen“zwischen der Schweiz und der EU soll den wirtschaftlichen Beziehungen eine feste Struktur geben, einen Rahmen eben. Dieser Rahmen umschließt fünf bereits existierende Zugangsabkommen der Schweizer zum EU-Binnenmarkt, etwa über Personenfreizügigkeit und Agrargüter. Alle künftigen Übereinkünfte, etwa ein angestrebtes Dokument über den lukrativen Strommarkt, wären ebenfalls abgedeckt.
Dem Entwurf zufolge würden die Schweizer sich künftig verpflichten, neue Regelungen der EU auf den relevanten Feldern zu übernehmen. Und der Europäische Gerichtshof hätte bei Streitigkeiten das letzte Wort. Die Schweiz und die EU haben seit den 1990er-Jahren laut der Regierung in Bern rund „20 Hauptabkommen und zahlreiche weitere Abkommen abgeschlossen“, die die Zusammenarbeit regeln. (jdh)
Das bisherige Ergebnis löste im gesamten politischen Spektrum Helvetiens Empörung aus: Am lautesten wettert die SVP gegen den „Unterwerfungsvertrag“. Bei der „Zuwanderung, dem Zugang zu unseren Sozialversicherungen, dem Verkehr auf unseren Straßen und Schienen“würde sich die Schweiz einseitig dem EU-Recht beugen, schimpft der SVPFraktionsvorsitzende im Parlament, Thomas Aeschi. Der Bundesrat plane die „institutionelle Einbindung der Schweiz in den EU-Apparat“.
Ins gleiche Horn stößt Gerhard Pfister, Parteichef der „Mitte“, der früheren christsozialen CVP. „Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs im Rahmenabkommen ist toxisch“, machte er in einem Interview mit dem „Tages-Anzeiger“klar. Und auch auf der linken Seite staut sich der Unmut über das Rahmenabkommen in seiner jetzigen Form: „Der vorliegende Entwurf verletzt fast alle roten Linien“, heißt es aus der Sozialdemokratischen Partei. Die SP fürchtet vor allem, dass Einwanderer aus der EU die hohen Löhne in der wohlhabenden Schweiz nach unten ziehen könnten.
Falls der Bundesrat und die EUKommission sich doch noch zusammenraufen und ein Rahmenabkommen unterzeichnen, wäre das noch nicht das Ende des Streits. Das letzte Wort zu dem Vertrag dürften am Ende die Schweizer Stimmbürger haben.