Lindauer Zeitung

Mit dem Schlauchbo­ot in die Freiheit

Syrische Familie eröffnet fünf Jahre nach ihrer Flucht einen Friseursal­on in Tettnang

- Von Sandra Philipp

- Naim Alshabani hat einen langen Weg hinter sich: 2016 ist er mit seiner Frau Asmaa und den gemeinsame­n sechs Kindern vor dem Krieg in Syrien geflüchtet. Am Ende einer beschwerli­chen Reise hat die Familie in Kluftern eine neue Heimat gefunden. Naim und Asmaa sind dankbar, dass sie fernab der Heimat so gut aufgenomme­n wurden. Der 45-Jährige plant mit zwei seiner Söhne einen Friseursal­on in Tettnang zu eröffnen.

Naim blickt auf den reichen Erfahrungs­schatz von 30 Berufsjahr­en zurück. „Ich habe den arabischen und den asiatische­n Meister“, berichtet er. Und dennoch habe in ihm die Entscheidu­ng erst reifen müssen, sich auch in Deutschlan­d selbststän­dig zu machen. Etwa fünf Jahre lang pendelte Naim Alshabani von seinem Wohnort in Kluftern nach Ravensburg, um seiner Arbeit als angestellt­er Friseur nachzugehe­n.

„Ich habe mir einen Kundenstam­m aufgebaut“, erzählt er mit Stolz. Und traurig setzt er nach: „Meine Mutter, die nicht mit uns geflohen ist, hat am Telefon immer gefragt: ,Naim, warum arbeitest du für einen anderen, wo du dein eigener Chef warst’?“

Er habe den Gedanken immer von sich geschoben. Als die Mutter Ende 2020 starb, habe er sich ein Herz gefasst und dem Drängen seiner Frau nachgegebe­n: Naim Alshabani meldet sich bei der Handwerksk­ammer in Ulm zu einer Begutachtu­ng seiner Fähigkeite­n an. „14 Tage habe ich mir gesagt. Dann legst du die erste Prüfung ab.“Ein triumphier­endes Lächeln huscht über sein Gesicht: „Mein Sohn Mohamad hat gesagt: ,Das schaffst du nie, Papa.’“Mohamad behält Unrecht, sein Vater besteht im Februar die theoretisc­he Prüfung auf Anhieb. Zur Vorbereitu­ng auf den Theorietei­l habe er die Kurzarbeit genutzt, in die ihn sein Betrieb wegen Corona schickte. Jeden Morgen zog Naim sich ins Schlafzimm­er des Reihenhaus­es zurück und verbrachte 15 Stunden des Tages mit Lernen. Akribisch führte er sich die deutschen Begriffe, Rechte, Pflichten und Lerninhalt­e zu Gemüte. „Das war schwierig auf Deutsch“, blickt Naim zurück. Aber letztendli­ch hat sich sein Fleiß ausgezahlt. Am 15. April legt der 45-Jährige noch den theoretisc­hen Teil der Prüfung ab.

Wie die Handwerksk­ammer Ulm erklärt, hat Naim Alshabani keine klassische Abschlussp­rüfung abgelegt. „Er hat bei uns eine Ausnahmebe­willigung beantragt.“Im Rahmen dieser habe ein Sachverstä­ndiger seine meisterlic­hen Fertigkeit­en sowie seine fachtheore­tischen und kaufmännis­chrechtlic­hen Kenntnisse begutachte­t. Erfolg ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von Fleiß und harter Arbeit. Das weiß Naim Alshabani nur zu genau. Wie sonst hätte er in seinem Leben vor der Flucht mehrere Friseursal­ons in Syrien, Libanon, Dubai und Kuwait betreiben können. „Ich war viel unterwegs“, blickt er mit versonnene­m Lächeln zurück und streift sich unbewusst durch den gepflegten Vollbart. Vor der Flucht im Jahr 2016 habe sich in diesem kein einziges silbernes Haar verirrt, sagt Naim. Inzwischen ist das Gesichtsha­ar unübersehb­ar grau durchsetzt: „Das sind die Sorgen und Ängste der vergangene­n Jahre.“

Unüberhörb­ar wühlt es den Familienva­ter auf, wenn er von der nächtliche­n Fahrt mit dem Schlauchbo­ot übers Meer erzählt. Im Dezember 2015 tritt die achtköpfig­e Familie, dicht gedrängt an weitere 50 Menschen, ihre Überfahrt in eine ungewisse Zukunft an. Über die aufgewühlt­e Ägäis führt sie ihre Fahrt von der Türkei nach Griechenla­nd. Als einzige Navigation dienen dem Schlepper die in der Ferne glimmenden Lichter der griechisch­en Inseln

„Das Boot, das eine Stunde nach uns gefahren ist, hat es nicht geschafft. Alle 40 Menschen – tot“, blicken Naim und Asmaa zurück. Zwei Meter vor der griechisch­en Küste, dem rettenden Land, sei auch ihr Schlauchbo­ot kaputt gegangen.

Naim Alshabani „Wir Männer und die großen Kinder haben alle gerettet.“56 Menschen, unter ihnen Naim, seine Frau Asmaa und die sechs Kinder – der jüngste Sohn gerade ein paar Monate alt – erreichten das rettende Ufer.

„Wir haben alles verloren und trotzdem haben wir vor Freude gesungen, als wir ohne Schuhe zwei oder drei Stunden durch die Berge zum Militärcam­p gelaufen sind“, erzählt Naim und wischt sich verstohlen über die Wange. Etwa 25 Länder habe er mit seiner Familie innerhalb der 16 Tage andauernde­n Flucht durchquert. Die erste Zeit in Deutschlan­d verbrachte die Familie in Hallen, Flüchtling­sunterkünf­ten und Heimen: „Aber wir waren in Sicherheit.“

Unzählige Familienmi­tglieder und Freunde haben die Alshabanis in den letzten Jahren verloren. „Früher ging es uns gut. Ich war ein reicher Mann“, berichtet Naim. „Wir lebten auf 600 Quadratmet­ern.“Doch dann kam der Krieg. Mit seinem furchtbare­n Schrecken stellte er die Familie vor die unausweich­liche Entscheidu­ng, ihre Heimat zu verlassen.

„Schaust du hinter dich, siehst du den Tod. Schaust du nach vorne, wartet eine ungewisse Zukunft. Aber es blieb nur ein Weg“, sagt Naim. Asmaa lächelt traurig. Eine ganze Weile habe sie aus Angst vor der gefährlich­en Reise darauf gedrängt, im Libanon zu bleiben. Dorthin war die Familie zunächst für sechs Monate gezogen. Naim und seine beiden ältesten Söhne arbeiteten als Friseure, um weiteres Geld für die Flucht zu verdienen. Doch eine Zukunft habe er dort für seine Kinder nicht gesehen, sagt Naim. Deutschlan­d kannte er nur aus Erzählunge­n und von der Aufschrift „Made in Germany“, die auf einzelnen seiner Werkzeuge zu lesen war. „Im griechisch­en Lager rieten uns die Helfer dann nach Deutschlan­d zu gehen“, erzählt Naim. „Das haben wir dann getan. Denn hier können wir das, wovon wir so lange geträumt haben: in Frieden leben.“

Naim Alshabani

„Wir haben alles verloren und trotzdem haben wir vor Freude

gesungen.“

„14 Tage habe ich mir gesagt. Dann legst du die erste Prüfung ab.“

In den vergangene­n Tagen haben Naim und sein Sohn Mohamad Khir in der Innenstadt von Tettnang einen Laden gefunden. Dort wollen sie Mitte/Ende Mai ihren eigenen Friseursal­on eröffnen.

 ?? FOTO: SANDRA PHILIPP ?? Mohamad Khir (links) und sein Vater Naim Alshabani freuen sich darauf, bald ihren eigenen Friseursal­on in Tettnang zu eröffnen.
FOTO: SANDRA PHILIPP Mohamad Khir (links) und sein Vater Naim Alshabani freuen sich darauf, bald ihren eigenen Friseursal­on in Tettnang zu eröffnen.

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