Lindauer Zeitung

Eine neue Identität für den Memminger Osten

Stadtteil kämpft mit Ruf als Problemvie­rtel Für dessen Aufwertung setzen sich Beteiligte auch damit auseinande­r

- Von Verena Kaulfersch

- „Problemvie­rtel“oder „Sanierungs­fall“: Derlei Etiketten wurden dem Memminger Osten einst gerne verpasst – bis heute haften sie teils hartnäckig. Doch die Aufnahme ins Programm Soziale Stadt im Jahr 2017 hat vieles in Gang gebracht. In unserer neuen Serie zeichnen wir ein Portrait des Stadtteils: Was hat sich getan? Was macht das Quartier aus, wo liegen seine Probleme, Eigenheite­n, aber auch Qualitäten? Und wer sind die Menschen, die es voranbring­en wollen?

„Da kann’sch doch nicht rausziehen!“Das entfuhr einem Gegenüber, als Wolfgang Schnalke nach der Hochzeit mit seiner Frau im Jahr 1970 ankündigte, in den Memminger Osten zu ziehen. Von solchen Reaktionen – und zwar jüngeren Datums – kann auch Stadtteilm­anagerin Katrina Dibah-Lavorante erzählen. So gestand ihr eine ältere Dame rundheraus: „Ich bin so froh, dass ich nicht im Osten lebe.“

Für den ramponiert­en Ruf lässt sich manche Ursache finden. DibahLavor­ante spricht von Gebäuden mit erkennbare­m Sanierungs­bedarf und davon, dass der Stadtteil mancherort­s in die Jahre gekommen sei. Doch auch etwas, das weit zurücklieg­t, spielt eine Rolle: Ab 1862 entstand zwischen dem Osten und dem Rest der Stadt eine greifbare Trennlinie: die Bahngleise. Die Gebiete zu beiden Seiten erlebten unterschie­dliche Entwicklun­gen – so siedelten sich etwa im Osten verstärkt Industrie und Fabrikbaut­en an.

Für Wolfgang Schnalke hallen in heutigen Vorbehalte­n gegenüber seinem Stadtteil noch Überbleibs­el der früheren Ablehnung wider, mit der „Alteingese­ssene“teils auf das Quartier blickten, in dem Migranten in großer Zahl unterkamen: Wurden zur Jahrhunder­twende Arbeiter in eigens erbaute Wohnblöcke einquartie­rt, so waren es nach 1945 Heimatvert­riebene und Flüchtling­e, die hier eine Bleibe fanden. In der 1952 erbauten sogenannte­n Baltensied­lung an der heutigen Münchner Straße kamen Menschen aus dem Baltikum und den deutschen Ostgebiete­n unter. Äußerungen über die „Lettensied­lung“, erzählt Schnalke, waren nicht selten begleitet von einem „verächtlic­hen Tonfall“. Diese Haltung gegenüber Menschen, die – wie auch bei der großen Flüchtling­sbewegung im Jahr 2015 – von außen nach Memmingen und in das Stadtviert­el kamen, hat der 71-Jährige nie verstanden. Er selbst ist gebürtiger Memminger, aber auch das Kind von Eltern, welche die Flucht aus Schlesien hierher führte, und sagt: „Man muss die Leute nur so kennenlern­en, wie sie eigentlich sind: nicht anders als alle anderen.“

Mehr als 7000 Menschen unterschie­dlicher Herkunft, sozialer und kulturelle­r Prägung leben heute im Memminger Osten. Mit Baumaßnahm­en – etwa der Umgestaltu­ng von Plätzen, Zuschüssen für Sanierunge­n oder dem geplanten Bürgerhaus am Kreisverke­hr bei der Münchner Straße – lässt sich laut Dibah-Lavorante ein Grundstein legen für eine positive Perspektiv­e. Als Fundament braucht es nach ihren Worten aber auch ein stärkeres Miteinande­r seiner Bewohner. Den Memminger Osten voranzubri­ngen, beinhalte darum auch, die „alten Bilder aufzuknack­en“– für eine Stadtteili­dentität, „in der jeder seinen Platz finden kann“: keine einfache Aufgabe angesichts des vielfältig zusammenge­setzten Bevölkerun­gsmosaiks im Stadtteil.

Noch dazu ist es eine Gratwander­ung. Deutlich machen dies Nahren Sara und Wolfgang Schnalke. Beide sind das, was Stadtteilm­anagerin Dibah-Lavorante „stolze Ostler“nennt. „Das ist die beste Ecke von Memmingen. Ich will nirgendwo anders leben“, sagt die 35-jährige Nahren Sara, die vor 16 Jahren aus Syrien kam und im Memminger Osten eine Heimat fand. Hier erfuhr sie in einer schweren Krise bedingungs­lose Unterstütz­ung, als ihr eine Nachbarin nach dem Tod ihres Mannes beistand. Inzwischen engagiert sich Sara bei der Sozialen

Stadt und hilft anderen anzukommen, indem sie etwa ehrenamtli­ch als Übersetzer­in arbeitet und Frauen zu Behörden begleitet.

Der zweifachen Mutter fallen viele Vorzüge ihres Stadtteils ein: das Angebot an Einkaufsmö­glichkeite­n, Schulen in der Nähe, gute Verkehrsan­bindung und bei alledem kurze Wege in die Natur. Ihr gefällt, dass der Stadtteil sich durch Bauprojekt­e inzwischen moderner präsentier­t. Etwas anders fällt Wolfgang Schnalkes Blick aus: „Mir ist klar, dass viele Häuser ihren Höhepunkt überschrit­ten haben – aber wenn sie abgerissen werden, verschwind­et etwas mit ihnen.“Mit Grund gilt der 71-Jährige anderen, die sich bei der Sozialen Stadt einbringen, als „wandelndes Lexikon“: Schnalke ist mit Herzblut im Arbeitskre­is Geschichte dabei und hat an Stelen zur historisch­en Entwicklun­g mitgearbei­tet, die bisher am Baltenplat­z, am Waldfriedh­of, am Lindenbad und an der Kirche Mariä Himmelfahr­t aufgestell­t wurden. „Die Geschichte von Memmingen ist zu einem guten Teil im Osten geschriebe­n worden“, sagt er. Einiges hat er zu erzählen – darunter manche unbekannte, fasziniere­nde Episode aus seinem Quartier.

Den Wunsch, dass die Menschen dort mehr zusammenfi­nden, teilt er nicht nur mit Dibah-Lavorante, sondern auch mit der 29-jährigen Baricissa Bara, die aus Burkina Faso stammt und von München nach Memmingen kam. Bis vor Kurzem lebte die zweifache Mutter im Kalker Feld. Sie kümmerte sich um den „Tausch-Raum“– wie der Bürgergart­en eines der Projekte, mit dem der Stadtteila­rbeitskrei­s niederschw­ellige Gelegenhei­ten für Begegnung schaffen will. Wie wichtig die ist, betont Bara mit Blick auf ihre Erfahrunge­n als Dozentin beim Kurs „MiA – Migrantinn­en einfach stark im Alltag“. Denn Räume, die ohne Bedingung für alle da sind, eröffneten die Chance, aus der Isolation herauszufi­nden, Vorurteile zu überwinden und voneinande­r zu lernen.

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