Ehrlichkeit ist gefragt
Von wenigen politischen Schritten erhofft sich die Ukraine mehr als von einem Beitritt zur Europäischen Union. Hier drohen Präsident Wolodymyr Selenskyj, der auf eine baldige und beschleunigte Aufnahme hofft, allerdings Frustrationen. In Kiew dürften die Entscheidungen und Worte aus Brüssel in näherer Zukunft noch für viel Enttäuschung sorgen. Denn die Erwartungshaltung ist nicht so schnell zu erfüllen, wie sich Selenskyj das vorstellt. Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am Donnerstag erneut deutlich gemacht. Dennoch wäre es falsch, die symbolische Wirkung zu unterschätzen, die ein Kandidatenstatus für die Ukraine bedeutete – für beide Seiten.
Für das von Russland angegriffene Land selbst geht es um die politische und wirtschaftliche Zukunft. Gerade in der Hinwendung zum Westen grenzt sich die dortige Regierung seit der Wahl Selenskyjs deutlich von Moskau ab. Bliebe sie allein, wäre sie den begehrlichen Griffen des Kremls weiter ausgesetzt – egal, wie der Krieg endet. Der Beitrittswille der Regierung in Kiew ist ein Vertrauensvorschuss für Europa.
Aber auch die Europäische Union kann die Beitrittsperspektive für die Ukraine nicht ungenutzt verstreichen lassen, wenn sie das westliche Lebensmodell weiterhin attraktiv halten und weitere Staaten in ihren Einflussbereich aufnehmen möchte. Letztlich geht es darum, europäische Länder dem Einfluss Russlands zu entziehen. Auf dem Balkan läuft dieses Ringen schon seit Jahren.
Allerdings hilft Ehrlichkeit auf beiden Seiten. In Sachen Rechtsstaat hat die EU mit ihrer Osterweiterung de facto nicht nur Glücksgriffe getätigt. Die Ukraine hat erst seit drei Jahren einen Präsidenten, der gegen Korruption und Oligarchen vorgeht – und wie schnell ein Rückfall in alte Zeiten gehen kann, hat man nach der Orangen Revolution von 2004 auch in der Ukraine erlebt. Für einen Beitritt samt Erfüllung sämtlicher rechtsstaatlicher Standards ist es noch ein weiter Weg – wie allein das Ausreiseverbot für wehrpflichtige Männer in der Ukraine belegt.