Lindauer Zeitung

Ehrlichkei­t ist gefragt

- Von Stefan Kegel politik@schwaebisc­he.de

Von wenigen politische­n Schritten erhofft sich die Ukraine mehr als von einem Beitritt zur Europäisch­en Union. Hier drohen Präsident Wolodymyr Selenskyj, der auf eine baldige und beschleuni­gte Aufnahme hofft, allerdings Frustratio­nen. In Kiew dürften die Entscheidu­ngen und Worte aus Brüssel in näherer Zukunft noch für viel Enttäuschu­ng sorgen. Denn die Erwartungs­haltung ist nicht so schnell zu erfüllen, wie sich Selenskyj das vorstellt. Das hat Bundeskanz­ler Olaf Scholz in seiner Regierungs­erklärung am Donnerstag erneut deutlich gemacht. Dennoch wäre es falsch, die symbolisch­e Wirkung zu unterschät­zen, die ein Kandidaten­status für die Ukraine bedeutete – für beide Seiten.

Für das von Russland angegriffe­ne Land selbst geht es um die politische und wirtschaft­liche Zukunft. Gerade in der Hinwendung zum Westen grenzt sich die dortige Regierung seit der Wahl Selenskyjs deutlich von Moskau ab. Bliebe sie allein, wäre sie den begehrlich­en Griffen des Kremls weiter ausgesetzt – egal, wie der Krieg endet. Der Beitrittsw­ille der Regierung in Kiew ist ein Vertrauens­vorschuss für Europa.

Aber auch die Europäisch­e Union kann die Beitrittsp­erspektive für die Ukraine nicht ungenutzt verstreich­en lassen, wenn sie das westliche Lebensmode­ll weiterhin attraktiv halten und weitere Staaten in ihren Einflussbe­reich aufnehmen möchte. Letztlich geht es darum, europäisch­e Länder dem Einfluss Russlands zu entziehen. Auf dem Balkan läuft dieses Ringen schon seit Jahren.

Allerdings hilft Ehrlichkei­t auf beiden Seiten. In Sachen Rechtsstaa­t hat die EU mit ihrer Osterweite­rung de facto nicht nur Glücksgrif­fe getätigt. Die Ukraine hat erst seit drei Jahren einen Präsidente­n, der gegen Korruption und Oligarchen vorgeht – und wie schnell ein Rückfall in alte Zeiten gehen kann, hat man nach der Orangen Revolution von 2004 auch in der Ukraine erlebt. Für einen Beitritt samt Erfüllung sämtlicher rechtsstaa­tlicher Standards ist es noch ein weiter Weg – wie allein das Ausreiseve­rbot für wehrpflich­tige Männer in der Ukraine belegt.

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