Lindauer Zeitung

Die Frage nach dem Warum

Elf Jahre nach dem Auffliegen der NSU beschäftig­t sich ein zweiter Untersuchu­ngsausschu­ss mit der Mordserie

- Von Christoph Trost

(dpa) - Und plötzlich wird es still in der Plenarsitz­ung des bayerische­n Landtags an diesem Donnerstag. Arif Tasdelen steht am Rednerpult und erklärt, warum es aus seiner Sicht einen neuen NSUUntersu­chungsauss­chuss braucht. Der Nürnberger SPD-Politiker nimmt die Abgeordnet­en und Zuschauer mit auf eine Zeitreise, zurück zum 8. und 9. Juni 2005. Er erzählt, wie er am 8. Juni abends – wie so oft – beim Imbiss von Ismail Yasar an der Scharrerst­raße war. Und wie dann am nächsten Tag die Spurensich­erung dort war. „Als junger Mann habe ich mich nicht getraut anzuhalten“, berichtet er in bewegenden Worten. Erst später habe er erfahren, dass Yasar, mit dem er sich noch am Tag zuvor unterhalte­n hatte, ermordet worden war.

Yasar war, wie erst Jahre später herauskam, das siebte Mordopfer des „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s“(NSU). Jener drei Terroriste­n, Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die über Jahre hinweg mordend durch Deutschlan­d zogen, ohne dass ihnen Polizei und Sicherheit­sbehörden irgendwie auf die Spur gekommen wären. Ihre Opfer waren neun Gewerbetre­ibende türkischer und griechisch­er Herkunft sowie eine deutsche Polizistin. Mundlos und Böhnhardt verübten zudem mindestens zwei Bombenansc­hläge mit Dutzenden Verletzten. Die beiden Männer töteten sich 2011, um ihrer drohenden Festnahme zu entgehen – kurz zuvor waren sie bei einem fehlgeschl­agenen Überfall aufgefloge­n.

Es war eine Schockwell­e, die damals durch die Republik ging: Wie konnte es sein, dass Neonazis so lange unbehellig­t durchs Land ziehen und Menschen ermorden konnten? Wie konnte es sein, dass die Polizei so lange ahnungslos war? Wie konnte es passieren, das zuallerers­t so oft die Familien der Opfer verdächtig­t wurden. Warum hieß es „Döner-Morde“, fragt Tasdelen, warum hieß die Sonderkomm­ission „Bosporus“? „Wenn Sie mich fragen, ob ich ein schlechtes Gewissen habe – ja, habe ich“, sagt Tasdelen. „Wir hätten es hinterfrag­en müssen – das haben wir nicht getan.“Auch er habe Schuldgefü­hle.

Mehr als fünf Jahre lang wurde die Mord- und Anschlagss­erie vor dem Münchner Oberlandes­gericht juristisch aufgearbei­tet. Zschäpe, die einzige Überlebend­e des Trios, wurde am Ende des Mammutverf­ahrens im Juli 2018 als Mittäterin zu lebenslang­er Haft verurteilt – auch wenn es keinen Beweis gibt, dass sie selbst an einem der Tatorte war. Das Urteil, auch gegen vier Mitangekla­gte, ist inzwischen rechtskräf­tig.

Parallel dazu gab es im Bund als auch in mehreren Bundesländ­ern bereits 13 Untersuchu­ngsausschü­sse, die sich mit Ermittlung­spannen und -fehlern der Behörden beschäftig­ten, von denen es so viele, viel zu viele gab. In Mecklenbur­g-Vorpommern gibt es aktuell den zweiten Untersuchu­ngsausschu­ss, und nun auch in Bayern, insgesamt Nummer 15.

Denn nach wie vor – trotz des Prozesses und der vielen Ausschüsse – sind viele Fragen offen. Zuallerers­t die Fragen der Angehörige­n nach dem Warum: Warum musste ausgerechn­et mein Vater, Sohn, Ehemann sterben? Warum wurden wir verdächtig­t – und die Täter blieben so lange unbehellig­t? Eine immer noch offene Frage ist zudem: Gab es weitere Hintermänn­er und Unterstütz­er der NSU-Terroriste­n? Wer half ihnen, mit Namen potenziell­er Opfer, beim Ausspähen von Objekten?

Weil noch so viele Fragen offen sind, stimmen sämtliche Fraktionen der Einsetzung des Gremiums zu – die Initiative dazu war von Grünen und SPD ausgegange­n. „Es darf keinen Schlussstr­ich geben und es wird keinen Schlussstr­ich geben“, sagt der Ausschussv­orsitzende Toni Schuberl (Grüne). Der Ausschuss werde alles in seiner Macht Stehende tun, um Licht ins Dunkel zu bringen – auch wenn er nur begrenzt Zeit hat: Er muss bis zur Landtagswa­hl im Herbst 2023 fertig sein. Der erste Untersuchu­ngsausschu­ss hatte seine Arbeit 2013 beendet.

Ausschuss-Vize Josef Schmid (CSU) betont ebenfalls, es gehe um Strukturen, die bisher nicht hätten aufgedeckt werden können. Es gehe aber auch um Menschenfe­indlichkei­t und Rassismus insgesamt, um die Frage der Standhafti­gkeit des demokratis­chen Rechtsstaa­ts – und auch um notwendige Schlüsse für heute. „Es kann niemand bestreiten, dass die Gefahren für die Demokratie zugenommen haben“, sagt Schmid.

Auch die AfD stimmt dem Ausschuss zu. Der Warnung von AfDMann Richard Graupner, das Gremium dürfe nicht zu einer Showverans­taltung der „vereinigte­n AntiRechts-Kämpfer“degradiert werden, kontert Wolfgang Hauber (Freie Wähler) sogleich mit den Worten, es sei doch „selbstvers­tändlich, dass der Hase seinen Jäger nicht liebt“.

Der bayerische Landtag, so betonen gleich mehrere Redner, habe bei der Aufarbeitu­ng des NSU-Komplexes eine besondere Verantwort­ung: Im Freistaat brachten die NSU-Terroriste­n die meisten Menschen um.

Auffällig ist: In der Debatte im Plenum genannt werden am Donnerstag nicht die Namen der Täter, nur einmal sagt einer „Zschäpe-Prozess“. Stattdesse­n zählt Toni Schuberl die Namen der fünf bayerische­n Opfer auf: Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru und Ismail Yasar in Nürnberg, und Habil Kilic und Theodoros Boulgaride­s in München. Und auch wenn viele Zweifel anmelden, was der zweite Untersuchu­ngsausschu­ss leisten könne – der Grünen-Abgeordnet­e Cemal Bozoglu betont, auch jedes noch so kleine Detail, das man im Ausschuss noch finden könne, habe große Bedeutung für die Angehörige­n – und für die Demokratie insgesamt.

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FOTO: TOBIAS HASE/DPA Der bayerische Landtagsab­geordnete Toni Schuberl (Grüne) ist Vorsitzend­er im zweiten NSU-Untersuchu­ngsausschu­ss.

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