Mit harten Bandagen für die Menschen in der Ukraine
Seit Ausbruch des Krieges organisiert Tatjana Kiel, die Managerin der Klitschko-Brüder, Hilfstransporte – Es ist für die Hamburgerin eine emotionale Aufgabe – Erfahrungen aus dem Profisport helfen ihr, damit umzugehen
- Der Flug hat Verspätung, auf der Fahrt nach Bregenz reiht sich ein Telefonat an das nächste. Überstunden sind für Tatjana Kiel derzeit der Normalzustand. Der Krieg macht auch keine Pause. Sind die Lebensmittelpakete in der Ukraine angekommen? Wann können weitere Menschen aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland gebracht werden, wo werden Spenden am dringendsten benötigt und welche Unternehmen könnten helfen? Fragen wie diese beschäftigen Kiel derzeit täglich, nahezu rund um die Uhr. Seit Ausbruch des Krieges organisiert die ehemalige Boxkampf-Managerin der Brüder Wladimir und Vitali Klitschko Hilfs- und Fluchttransporte zwischen der Ukraine und Deutschland.
Tatjana Kiel hat über mehrere Jahre hinweg die Boxkämpfe der beiden ehemaligen Profisportler organisiert und kennt die beiden Brüder daher wie kaum ein anderer.
Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat das Leben der 42-jährigen Hamburgerin komplett verändert. Seit dem 24. Februar ist für Kiel kein Tag mehr wie der andere. Die Ereignisse in der Ukraine bestimmen ihren Tagesrhythmus.
Eine paar Stunden zum Innehalten nimmt sich Kiel an diesem Abend in Bregenz aber dann doch. Um kurz nach 19 Uhr lässt sie sich in der Raiffeisenlounge am Kornmarktplatz zum Pressegespräch auf einem Barhocker nieder. Sie atmet einmal tief durch – erleichtert darüber, endlich angekommen zu sein – und wirft einen letzten Blick auf das Smartphone, bevor sie es außer Sichtweite legt. Ab dann ist Tatjana Kiel präsent, ohne Kompromisse bei der Sache. Lächelnd blickt sie in ein Dutzend erwartungsvolle Gesichter, dann beginnt sie zu erzählen. Von ihrem persönlichen Kontakt zu Wladimir und Vitali Klitschko, ihrer Ukraine-Initiative, ihrem persönlichen Umgang mit dem Leid und den schlimmen Bildern, die sie aus dem Kriegsgebiet erreichen, und wie die Erfahrungen aus dem Profisport ihr und den Klitschko-Brüdern helfen, mit den Erlebnissen umzugehen.
Innerhalb weniger Tage hat sich Kiel von der Geschäftsführerin der Beratungsagentur „Klitschko Ventures“, die Schulungen für Privatleute und Firmen anbietet, zur Hilfsaktivistin der Klitschko-Brüder im Ukraine-Krieg gewandelt.
Die Geschäftsidee von „Klitschko Ventures“besteht darin, Motivationstechniken aus dem Profisport in den Alltag zu übertragen. Zusätzlich bietet die Gesellschaft zu diesem Thema Seminare an der Universität St. Gallen, Trainings für Führungskräfte und Sportcamps an. Zu Gewinnund Umsatzzahlen äußert sich das Unternehmen aktuell nicht. „Ich werde mich nicht zu Geschäftszahlen äußern, solange ich nicht eine Milliarde US-Dollar an Umsatz gemacht habe”, sagte Wladimir Klitschko dazu in einem Forbes-Interview im Juli 2020.
Aus dieser Zusammenarbeit ist die Initative „We are all Ukrainians“, zu Deutsch: „Wir sind alle Ukrainer“, entstanden, mit der sich Tatjana Kiel und Wladimir Klitschko für jene Menschen im Kriegsgebiet einsetzen, die in Schächten, Bunkern und anderen Schutzräumen ausharren und um ihr Überleben kämpfen.
Eine Vorahnung auf die Eskalation des Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine deutete sich für die
Managerin daher auch bereits Wochen vor dem eigentlichen Ausbruch des Krieges an, als sie im Verhalten Wladimir Klitschkos eine Veränderung bemerkte.
Akribisch habe der vielfache Weltmeister begonnen, Vorkehrungen für einen möglichen Kriegsausbruch zu treffen, mehr zu trainieren und sich intensiver mit den politischen Entwicklungen in der Ukraine und verschiedenen Szenarien auseinanderzusetzen. „Ich hatte den Eindruck: Er bereitet sich körperlich und mental auf etwas vor, was ich so noch nicht kannte. So bereitet er sich sonst nur bei Kämpfen vor“, erinnert sich Kiel. „Er hat gesagt, dass da etwas Schlimmeres passieren wird, was wir unterschätzen.“
Emotional gewappnet, trifft sie der Einmarsch in die Ukraine dennoch härter als erwartet: „Die Vehemenz, mit der Putin dann aber nach Kiew gegangen ist – dahin, wo wir sitzen und wo wir den Angriff unmittelbar zu spüren bekommen haben – das hat mich total aus der Bahn geworfen.“Trotzdem steht für Kiel von Beginn an außer Frage, die ehemaligen Profisportler auch in diesem Kampf zu unterstützen. Zwar nicht im Kriegsgebiet, aber zumindest von Hamburg aus, dem Firmensitz von Klitschko Ventures.
Innerhalb eines Tages organisiert die Unternehmerin daraufhin eine Demonstration auf dem Platz der Deutschen Einheit in Hamburg. Die Entschiedenheit, mit der Wladimir Klitschko erklärt habe, im Falle eines Kriegs bei seinem älteren Bruder, dem Bürgermeister von Kiew, zu bleiben und in der Ukraine an dessen Seite zu kämpfen, beeindruckte sie. „Da ist mir erstmalig bewusst geworden: Auch unsere Freiheit und Demokratie stehen auf dem Spiel.“Während Tatjana Kiel in Hamburg mehrere Tausend Demonstranten zur Solidarität mit der Ukraine auffordert, kämpfen in 1600 Kilometer Entfernung Soldaten derweil um den Luftwaffenstützpunkt bei Wassylkiw sowie um andere Ziele rund um Kiew und Odessa. 120 000 Menschen haben zu diesem Zeitpunkt bereits die Ukraine verlassen.
Mit der Demonstration in Hamburg ändert sich nicht nur Kiels Sichtweise, sondern auch ihr persönlicher Umgang mit der politischen Lage in der Ukraine. „Ich habe auf Kampfmodus umgestellt und wenig Emotionen zugelassen, obwohl ich mindestens einmal am Tag so emotional werde, dass ich wirklich weine, mich kurz sammeln oder zurückziehen muss.“
Seit mehr als 17 Jahren für die Klitschko-Brüder im Einsatz, versucht die studierte Betriebswirtin nun ihre beruflichen Kontakte zu nutzen, um deutsche Unternehmen zur Unterstützung ihrer Initiative zu bewegen. Die Bekanntheit der beiden Boxweltmeister hilft ihr dabei. „Die Leute wissen, dass in Kiew Wladimir und Vitali mit ihren Namen für unsere Sache stehen. Sie kennen uns, weil wir jahrzehntelang zusammen gearbeitet haben und wissen, dass man uns vertrauen kann. Das hat sich jetzt ausgezahlt“, erklärt Kiel.
Ihren Anfang nimmt die geplante Transportbrücke mit einer Anfrage bei der Deutschen Bahn. Kiel hatte über die sozialen Medien erfahren, dass das Unternehmen Ukrainerinnen und Ukrainer über die Grenze nach Deutschland bringt, wenn diese sich entsprechend ausweisen können. „Also habe ich da angerufen und gefragt: ,Würdet ihr auch Güter rein oder an die Grenze bringen?’ Und ich hatte den Satz nicht einmal zu Ende gesprochen, da hatte sie schon zugesagt“, sagt Kiel.
In Zusammenarbeit mit der Bahn sowie deutschen Drogerieunternehmen und Einzelhandelsketten hat die Klitschko-Ventures-Chefin so in den ersten zehn Tagen des Krieges 2800 Tonnen Lebensmittel in die Ukraine bringen lassen. Eine Leistung, die Wladimir Klitschko in so kurzer Zeit nicht für möglich gehalten hätte, wie Kiel aus Gesprächen mit dem 46-Jährigen berichtet: „Seit dem Tag fragt er nicht mehr, wie ich das machen will, sondern sagt mir nur noch die Bedarfe und ich organisiere.“Über soziale Medien teilt sie die Fortschritte der Kampagne und baut so medialen Druck auf, um weitere Firmen zum Mitmachen zu animieren. Für ihre Initiative gewinnen kann sie damit unter anderem die Unternehmen Rossmann, Lidl und Unilever.
Sie stimmt sich eng mit den Klitschko-Brüdern ab. „Die ersten zwei Wochen haben wir zwischendurch immer wieder telefoniert, aber es war nur ein ,Wir brauchen das, das, das und das. Wir leben. Wir stehen weiter im täglichen Austausch. Tschüss.’“Der Kontakt mit den beiden Brüdern ist auf das Nötigste beschränkt – die wenigen Minuten persönlichen Kontakts wollen sie möglichst effizient nutzen. „Wir haben von Anfang an nie die Frage gestellt, die man normalerweise sonst immer stellt, nämlich, wie es geht. Es gab kein ,Wie geht’s’, weil klar war, dass es keinem gut geht, und es deshalb auch völlig irrelevant wäre, darüber zu sprechen. Es hätte uns Zeit von dem genommen, was wichtig ist, nämlich wie wir unterstützen können.“
Außer den Lebensmitteltransporten setzt sich Tatjana Kiel mit ihrer Initiative zudem für die Ausreise von ukrainischen Zivilisten ein. Erklärt sich in Deutschland ein Hotel bereit, eine bestimmte Anzahl an Flüchtlingen aufzunehmen, organisiert Kiel mit einem Team aus sechs Freiwilligen einen Transport, um entsprechend der Kapazität der Unterkunft Menschen über die Grenze in Sicherheit zu bringen.
Eine Aufgabe, die Kiel in ihrer Arbeit für „We are all Ukrainians“allerdings besonders nahegeht, ist die Unterstützung der werdenden Mütter in den unterirdischen Schutzschächten. Eine enorme Herausforderung, mit der Tatjana Kiel zu Beginn ihrer
Hilfsaktion nicht gerechnet hatte. „Viele Frauen bekommen ihre Kinder viel zu früh. Wir reden dabei nicht von Tagen, sondern von Wochen“, erklärt sie. „Die Babys sind viel zu klein. Die Mütter haben so viel Stress im Körper, dass sie nicht stillen können. Auch das Versorgungssystem funktioniert nicht.“Als Mutter einer neunjährigen Tochter weiß Tatjana Kiel jedoch, wie überfordernd die ersten Tage nach der Geburt sein können – selbst ohne die direkte Bedrohung durch einen Krieg. Kiel hat daraufhin recherchiert, dass in der Ukraine durchschnittlich pro Monat etwa 10 000 Babys zur Welt kommen. Mit dieser Zahl hat sie sich an die Drogeriemarktkette dm gewandt und um eine Spende gebeten. Innerhalb von zwölf Stunden erklärt der Karlsruher Konzern, eine Millionen Produkte für die ukrainischen Mütter und ihre Babys bereitzustellen – verpackt in 10 000 Starterpaketen für die ersten zehn Lebenstage.
Um mit emotionalen Situationen wie diesen gut umzugehen, helfen Tatjana Kiel ihre Erfahrungen als langjährige Boxkampf-Managerin. Mehr als 50 Wettkämpfe hat die Hamburgerin bis zu Wladimir Klitschkos Karriereende 2017 organisiert und vom Rande des Rings miterlebt. Mit der Zeit habe sie jedoch gelernt, ihre Emotionen in entscheidenden Situationen hintanzustellen, um sich ganz auf die zuvor vereinbarte Strategie zu konzentrieren – und so eine Runde nach der anderen zu überstehen, bis der Kampf vorbei ist. „Was ich gelernt habe ist, Emotionalität, wenn ich es muss, auszuschalten“, so Kiel.
Diese Technik nutzen im Übrigen auch die beiden Brüder für sich. Wie Kiel aus Gesprächen mit Wladimir und Vitali Klitschko verrät, hilft der sportliche Ausgleich ihnen auch weiterhin, fokussiert zu bleiben, trotz der prekären Lage der Ukraine nach vorne zu blicken und sich auf die verbleibenden Chancen zu konzentrieren. „Es ist, auch für die beiden, wichtig, immer wieder auch Sport zu treiben“, erzählt Kiel. „Einfach, um wieder im Hier und Jetzt zu sein, um wieder agieren zu können. In Situationen, in denen es zu viel wird, mache ich es genauso: Einfach kurz runter und Liegestützen machen, damit der Kopf wieder Sauerstoff bekommt.“
Auch sonst ist es für Tatjana Kiel wichtig, die Bilder und Eindrücke, die sie täglich aus der Ukraine erreichen, möglichst gut zu verarbeiten – aus ihrer Rolle als Managerin und Hilfsaktivistin auszubrechen und für einen Moment einfach nur sie selbst zu sein. Auf die Frage, was es für sie bedeuten würde, wenn einer der beiden Brüder stirbt, folgt eine kurze Stille. Dann antwortet sie wie gewohnt professionell und mit ruhiger Stimme: „Wir sind uns bewusst, dass das passieren kann. Wir sind auf das Worst-Case-Szenario vorbereitet und haben dafür viel vorbereitet und abgesprochen. Alles andere kann nur die Zeit zeigen.“Was ein solcher Verlust dagegen für sie ganz persönlich bedeuten würde, hält die Managerin bis zum Ende des Abends gut geschützt hinter ihrer Mauer verborgen.
Tatjana Kiel