Störfeuer im Staatsfernsehen
Russischer Militärexperte zerlegt in einer Propaganda-Talkshow die Kriegspolitik Putins – Später rudert er zurück
- Michail Chodarjonok ist das, was man einen klassischen Experten nennen könnte. Vollgepumpt mit Fachwissen. Zapft man ihn an, sprudelt es aus ihm heraus. Der Oberst a.D. kann ganze Vorträge über das russische Panzerunterstützungssystem „Terminator 2“halten. Er kann aber auch grundsätzlich werden. Denn zuletzt diente der 68-Jährige in der operativen Planung des russischen Generalstabs. Chodarjonok weiß also genau, was er sagt, wenn er mit Blick auf den UkraineKrieg von einer „kompletten militärisch-politischen Isolation“Russlands spricht und fordert: „Wir müssen da raus.“
In Russland, wo der Krieg nur Spezialoperation genannt werden darf, kommt das einer kleinen Revolution nah. Zumal der bärbeißige ExOffizier seine Brandrede in einer Propaganda-Talkshow des Staatssenders „Rossija 1“hielt. Moderatorin Olga Skabejewa schien kaum fassen zu können, was ihr Gast da über „kommunikative Beruhigungspillen“des Kremls von sich gab. Empört konterte sie die Thesen des Experten: „Es gibt weltweit viel mehr Menschen, die für uns sind, als es Feinde im Westen gibt.“Darauf Chodarjonok trocken: „Sie stimmen mir aber sicher zu, dass die Situation nicht normal ist.“
Was war das bloß? Das kremlkritische russische Portal „Medusa“, das von Lettland aus arbeitet, bietet zwei Erklärungen an. Es könnte sich um den „Weckruf“eines Ex-Militärs gehandelt haben, der nicht länger mit ansehen mag, wie Soldaten sterben. „Oder es war eine Offenbarung der Realität, um die Nation auf weitere negative Nachrichten vorzubereiten.“In dem Fall wäre alles geplant gewesen. Für eine „Show in der Show“spricht, dass das Staatsfernsehen nichts dem Zufall überlässt. Auffällig war auch, dass er bei einem erneuten Auftritt in der SkabejewaShow am Mittwoch plötzlich andere Töne anschlug. Die Ukraine werde in nächster Zeit „unangenehme Überraschungen erleben“.
Gut möglich also, dass der Kreml die Inszenierung steuerte. Nachdem die „Offenbarung“raus war, ruderte Chodarjonok öffentlich zurück. Eine solche Doppelstrategie fährt auch die Führung um Wladimir Putin. Außenminister Sergei Lawrow etwa beschwichtigte zuletzt, der geplante Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens
Der erste russische Soldat, dem seit Beginn des Ukraine-Kriegs in Kiew der Prozess wegen Kriegsverbrechen gemacht wird, hat vor Gericht um „Vergebung“gebeten.
„Ich weiß, dass Sie mir nicht vergeben können, aber ich bitte dennoch um Vergebung“, sagte der 21-jährige Wadim Schischimarin am Donnerstag bei der Verhandlung in Kiew zu der Frau des 62-jährigen Zivilisten, dessen Tötung er bereits gestanden hatte. Schischimarin wird vorgeworfen, den unbein
mache „keinen großen Unterschied“. Vor allem von Putin selbst sind seit dem 9. Mai keine allzu scharfen Attacken mehr zu hören.
Putin hatte am „Tag des Sieges“im Zweiten Weltkrieg zwar die Nato für die „Eskalation“verantwortlich gemacht. Zugleich erwähnte er aber erstmals eigene Opfer. Viele Kommentatoren waren sich einig, dass Putin die Nation auf einen langen Krieg einschwören wollte. geschossen. „Es hat ihn umgebracht.“
Die Ukraine wirft der russischen Armee vor, seit Beginn der Invasion am 24. Februar zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Später am Donnerstag sollten Kriegsverbrecherprozesse gegen zwei weitere russische Soldaten beginnen. Wegen mutmaßlicher Völkerrechtsverbrechen ermittelt auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). (AFP)
War Chodarjonoks Auftritt also nur der nächste Akt in einem Propaganda-Schauspiel? Zweifel bleiben. Teile seiner Analyse klangen doch allzu deutlich nach einer Generalabrechnung. Wer zuhörte, musste den Eindruck gewinnen, dass die russische Armee in der Ukraine kurz vor dem Untergang steht: „Der Gegner wird keine Probleme haben, eine Million Menschen zu mobilisieren und unter Waffen zu stellen“, erklärte Chodarjonok. Und für ausreichend Waffen sorge gerade eine USgeführte Koalition aus 42 Staaten. „Praktisch die ganze Welt ist gegen uns.“Das spätere Zurückrudern wirkte dagegen erzwungen. Hinzu kommt, dass der Oberst nicht zum ersten Mal mit einer Fundamentalkritik auffällig wurde. Anfang Februar warnte er eindringlich vor einer Invasion in der Ukraine: „Das wird in keiner Weise funktionieren.“Drei Wochen später gab Putin den Marschbefehl.
Damals nutzte Chodarjonok ausgerechnet die kremlkritische Zeitung „Nowaja Gazeta“von Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow für seinen Alarmruf. Was Chodarjonok schrieb, liest sich im Nachhinein wie ein Drehbuch dessen, was auf dem Schlachtfeld tatsächlich passierte. „Niemand wird die russische Armee in der Ukraine mit Brot, Salz und Blumen empfangen“, mahnte er. Die ukrainische Armee sei stark, ein „Blitzkrieg“unmöglich. „Nur Politiker können so etwas annehmen.“Zudem bestehe kein Zweifel, dass die USA und die Nato die Ukraine schnell aufrüsten würden. All das kam exakt so, wie von Chodarjonok vorhergesagt.
Putin setzte sich über alle Warnungen hinweg – und sieht sich nun mit der Frustration der Mahner konfrontiert. Gerade im Militär. Ein Dutzend Generäle starb bereits im Laufe des Angriffskrieges. Aber auch in anderen Teilen der russischen Elite nimmt der Unmut zu. Nicht zuletzt in der Wirtschaft, die mit Sanktionen zu kämpfen hat. Seit wenigen Wochen gilt das auch für die Sberbank, die Anfang Mai auf die Sanktionsliste kam. Kann es da Zufall sein, dass aus der Zentrale des Geldhauses eine Spur zu Chodarjonok führt? Der ExOberst publiziert vor allem auf „Gazeta.ru“. Das Portal ging 2020 in den Besitz der Sberbank über.