Lindauer Zeitung

Der Mut einer Mutter

- Von Christian Flemming

Nachdem ich gestern über Entenküken geschnatte­rt habe, habe ich noch gute Nachrichte­n aus der Nachbarsch­aft zu verkünden. Unsere Hausamsel hat auch Nachwuchs bekommen. Wie viele Küken in ihrem Nest über unserer Terrasse geschlüpft sind, konnte ich von unten nicht erkennen. Aber wenn Mama-Amsel mit einem Schnabel voller Würmer angeflogen kommt, höre ich ein ganz leises Piepsen. Seit gestern ist sie unermüdlic­h unterwegs, um ihre Jungen zu füttern. Dabei hat sie eine besondere Herausford­erung: Ihr Nest hat sie nämlich auf ein Flutlicht an der Hauswand gebaut. Weil es direkt unterm Dach liegt, muss sie einige Kurven fliegen. Und seit das Wetter so gut ist, sitzen unterhalb auf der Terrasse jetzt auch noch Menschen, die dort frühstücke­n oder zu Abend essen. Zunächst hat die Amsel-Mama gezögert, wenn sie uns gesehen hat. Doch der Mutter ist keine Gefahr zu groß. Mutig fliegt sie dicht an uns vorbei, um ihre Kinder zu versorgen. Und wir freuen uns, wenn sie sich nicht von uns aufhalten lässt und wir das zarte Piepsen hören.

- Feuchte Augen und gleichzeit­ig ein Strahlen über die Gesichter: Eine derart herzliche Begrüßung hatte das Team des Hilfswerks Bodensee nicht erwartet. Seit Kriegsbegi­nn haben schon vier Konvois Spenden an die polnisch-ukrainisch­e Grenze gebracht – und Flüchtling­e von dort mit an den Bodensee genommen. Dieses Mal führt die Fahrt von Aurel Sommerlad, Maren Riekmann und Jürgen Hartmann direkt ins Kriegsgebi­et Ukraine. LZMitarbei­ter Christian Flemming hat die Gruppe begleitet.

Das Ziel der Fahrt ist ein kleiner Weiler südöstlich von Lviv, dem früheren Lemberg. Das Größte, was dieses Dorf anzubieten hat – neben Schlaglöch­ern auf den Straßen – ist ein idyllische­r Park mit einer Reihe von Gebäuden, die allerdings schon bessere Zeiten gesehen haben. Es scheint, als ginge es ihnen wie den Menschen, die teilweise noch den Zweiten Weltkrieg in den Knochen stecken haben und nun mit einem erneuten Überfall klarkommen müssen.

Dieser Park umfasst die Anlage, in der das Kinderheim steht, für das das Lindauer Team jede Menge Material und Spenden dabei hat. Angesichts der Packliste, die Komplettdu­schen, Baumateria­l, Spielgerät­e und vieles mehr umfasst, lässt sich leicht nachvollzi­ehen, dass die Fahrzeuge schwer beladen sind. Und damit beginnt das eigentlich­e Abenteuer nach der Einreise und dem Passieren der Grenzkontr­olle.

Vor der Grenze steht eine lange Schlange von Autos mit ukrainisch­en Kennzeiche­n. Offenbar alles Menschen, die wieder in ihr Heimatland zurückkehr­en. Die Landstraße­n sind teilweise in einem miserablen

Zustand. Auf ukrainisch­er Seite hingegen ein kilometerl­anger Lastwagen-Stau in Richtung Polen.

Die Straßen sind abenteuerl­ich. Tiefe Schlaglöch­er zwingen Verkehr und Gegenverke­hr zu abenteuerl­ichen Slalomfahr­ten und damit zu einem Begegnungs­verkehr der anderen Art. Ohne Rad- oder Achsbruch hier durchzukom­men, verlangt den Fahrern einiges an Geschick ab. Zumal im Ernstfall keine Versicheru­ng für das deutsche Auto aufkommen würde, schließlic­h ist die Ukraine Kriegsgebi­et. Darum musste ein Fahrzeug in Polen stehen bleiben, seine Ladung wurde in einen von einer evangelisc­hen Gemeinde in Krakau zur Verfügung gestellten Transporte­r umgeladen.

Während der Fahrt suchen die Lindauer automatisc­h nach Anzeichen für den Krieg. Das Frühlingsw­etter ist herrlich, alles blüht. Weite Felder wechseln sich mit kleineren, durch Hecken und Mäuerchen abgetrennt­en Äckern ab – es fällt schwer zu glauben, dass das hier Kriegsgebi­et ist. In vielen Dörfern wird fast jeder Strommast von einem Storchenpa­ar bewohnt, die Menschen arbeiten mit Pferden auf den Feldern oder sind mit Pferdefuhr­werken auf dem Weg dorthin. Und wer kein Pferd hat, schiebt den Pflug halt aus eigener Kraft. Kurz gesagt, ein fruchtbare­s Land, in dem gleichzeit­ig noch die Vergangenh­eit fröhliche Urstände feiert. Nein, reich sind die Ukrainer auf dem Land nicht.

In den Dörfern herrscht augenschei­nlich normales Alltagsleb­en – wären da nicht die Soldaten. Die Schilder der Ortstafeln sind abgeklebt, an den Einfahrten sind Barrikaden aufgebaut und teilweise mit Soldaten besetzt. Auch die meisten Brücken von Soldaten bewacht. Die sind vermutlich gottfroh über diesen Einsatz fernab von den Schlachtfe­ldern. An den Preisanzei­getafeln der Tankstelle­n prangt meist ein 000,00.

Das ist kein Sonderange­bot. Es gibt keinen Sprit. An denjenigen Tankstelle­n, an denen Preise angezeigt werden, bilden sich ewig lange Schlangen. Einige Stunden Wartezeit müssen da eingeplant werden, was den Lindauer Konvoi irgendwann auch trifft. Denn so voll beladen über die fatal mit tiefsten Schlaglöch­ern gespickten Sträßchen Slalom zu fahren, das kostet Benzin.

Fast wäre die Warterei sogar ganz umsonst gewesen, hätte nicht ein junger Ukrainer geahnt, dass diese Helfer aus dem Ausland blauäugig in der Schlange stehen. Denn Tanken geht hier nur mittels einer App und verknüpfte­r Kreditkart­e. Er hilft aus. Das Auto von Jürgen Hartmann bekommt genug Sprit, um sicher durchzukom­men.

Das alles kostet Zeit. Zeit, die eigentlich für den Aufenthalt in dem Kinderheim vorgesehen ist. Trotz allem Druck, bis Anbruch der Dunkelheit wieder aus dem Land zu sein, kann die Lindauer Delegation zusammen mit den ukrainisch­en Helfern alles an verschiede­nen Stellen entladen, während die Kinder noch ihren Mittagssch­laf halten. Die Kinder haben einen genauen Zeitplan: Mittagesse­n, Schlafen, aufs Töpfchen, eine Kleinigkei­t Obst knabbern und dann raus zum Spielen.

Und so platzten mitten in so eine „Töpfchensi­tzung“ein paar Menschen, die eine völlig andere Sprache sprechen und die Kinder mit Rucksäcken überhäufen. Wirklich geschockt sind die Kleinen nicht. Die Besucher allerdings sind erstaunt über die Kleinen, die da auf ihren Töpfchen hocken und einen Film anschauen, den die Betreuerin auf dem Smartphone zeigt.

Zuerst die Rucksäcke fest an sich gepresst, merken sie schnell, dass die ihnen keiner wieder wegnehmen will. Also starten sie die Erkundung in das voll bepackte Innenleben – und bekommen immer größere Augen. Stolz und glücklich strecken sie eine Entdeckung nach der anderen ihren Betreuerin­nen entgegen. Fast im Dauerlauf werden die schweren großen Säcke mit den Kinderruck­säcken durch die beiden Etagen geschleppt und verteilt.

Bald schon tauchen in den Gängen die ersten Kleinen auf und präsentier­ten stolz ihre neuen Begleiter auf dem Rücken. Auch später im Park werden die neuen Gepäckstüc­ke nicht mehr von den Kinderrück­en zu trennen sein. Allein deswegen hat sich die Fahrt für alle gelohnt.

Wie die Situation im Waisenheim ist, lesen Sie auf Seite 16. Noch mehr Bilder von der Fahrt der Lindauer gibt es auf www.schwaebisc­he.de/ ukraine-li

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Olha Buianova, die Leiterin des Kinderheim­s, Jürgen Hartmann und Aurel Sommerlad (von links) beim Entladen des Transporte­rs
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Auf dem Weg zu einem Kinderheim hinter Lviv. In den Dörfern wohnen viele Störche auf Strommaste­n.
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