Lindauer Zeitung

„Erforderli­che Daten standen nicht zur Verfügung“

Stiko-Chef Thomas Mertens sieht gravierend­e Schwachste­llen bei neuer Impfnebenw­irkungsstu­die

- Von Ulrich Mendelin

- Eine Gruppe von Wissenscha­ftlern um den US-Professor Peter Doshi von der Universitä­t Maryland haben die Studien untersucht, die zu der Zulassung der mRNA-Impfstoffe von Pfizer/Biontech und Moderna geführt haben. Sie kommen zu dem Schluss, die Gefahr schwerer Nebenwirku­ngen bei diesen Impfstoffe­n sei höher als angenommen. Kritiker leiten daraus die Forderung an die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) ab, die Empfehlung für diese Impfstoffe zurückzuzi­ehen. Zu Unrecht, wie Stiko-Chef Thomas Mertens im Interview erläutert.

Herr Mertens, wie ordnen Sie die Studie von Professor Doshi und Kollegen ein?

Die Autoren haben die bekannten und veröffentl­ichten Daten verwendet und haben dabei weder den Zusammenha­ng zwischen einer Impfung und der beobachtet­en, vermuteten Nebenwirku­ng geprüft, noch haben sie Alter, Vorerkrank­ungen und andere medizinisc­he Grunddaten in den untersucht­en Gruppen vergleiche­nd berücksich­tigt. Diese erforderli­chen Daten standen allerdings auch nicht ausreichen­d zur Verfügung. Im Übrigen weisen die Autoren in ihrer Veröffentl­ichung auf die zahlreiche­n gravierend­en Schwachste­llen ihrer Analyse durchaus korrekt sehr selbstkrit­isch hin.

Insgesamt lässt diese Veröffentl­ichung keine aussagekrä­ftigen Schlussfol­gerungen zu. Darüber hinaus müssen natürlich für eine RisikoNutz­en-Analyse mittlerwei­le auch die vielen Anwendungs­beobachtun­gen herangezog­en werden. Die Daten aus den Zulassungs­studien, die hier zusammenge­führt wurden, liegen den Zulassungs­behörden wie der Europäisch­en Arzneimitt­elAgentur EMA beziehungs­weise dem Paul-Ehrlich-Institut PEI vor. Bei PEI und EMA liegt auch ganz eindeutig die Zuständigk­eit für die Fragen der Impfstoffs­icherheit.

Diese prüfen die jeweiligen Einzelfäll­e, und die Wahrschein­lichkeit, dass es hier einen ursächlich­en Zusammenha­ng mit der Impfung gibt. Nebenwirku­ngen, bei denen ein ursächlich­er Zusammenha­ng mit der Verabreich­ung der Vakzine vermutet wird, werden in die Fachinform­ation für jeden lesbar aufgenomme­n. Sicherlich sind Impfkompli­kationen immer ernst zu nehmen und müssen von der Stiko im Rahmen einer – kontinuier­lichen – epidemiolo­gischen Risiko-Nutzen-Bewertung berücksich­tigt werden. So geschehen ja auch bei den ersten Berichten zu Fällen mit zerebraler Thrombose oder auch zu Myokarditi­s.

Ein Vorwurf an die Adresse der Pharmakonz­erne lautet, diese würden ihre Studiendat­en nicht hinreichen­d öffentlich machen – jedenfalls nicht hinunter bis zum anonymisie­rten Einzelfall. Dies sei aber nötig, um Nutzen und Risiko für verschiede­ne Personengr­uppen genauer abzuschätz­en. Können Sie diese Kritik nachvollzi­ehen?

Ja, es gibt einen Punkt, der immer wieder zu Recht von Peter Doshi angemahnt wird. Das ist die noch nicht erfolgte Offenlegun­g der Primärdate­n für jeden einzelnen Teilnehmer aus den Impfstoff-Zulassungs­studien. Es wäre wichtig und sehr wünschensw­ert, wenn die Impfstoffh­ersteller immer die größtmögli­che Datentrans­parenz schaffen würden.

Wie lässt sich eigentlich grundsätzl­ich abschätzen, ob eine mögliche Komplikati­on nach einer Impfung tatsächlic­h auf die Verabreich­ung des Impfstoffs zurückzufü­hren ist oder nicht?

Es gibt hier im Wesentlich­en vier Ansätze: Erstens versucht man einen möglichen biologisch­en Zusammenha­ng zwischen Impfung und vermuteter Nebenwirku­ng aufzukläre­n. Zweitens werden hierzu Tierexperi­mente durchgefüh­rt, und drittens dienen genau hierzu die klinischen Studien.

Häufige Nebenwirku­ngen fallen in den klinischen Studien immer auf, und man kann statistisc­h berechnen, welche Nebenwirku­ngshäufigk­eit man bei einer bestimmten Studiengrö­ße erfassen kann. Viertens, bei sehr seltenen Nebenwirku­ngen spielen die Studien nach Beginn der breiten Anwendung eine entscheide­nde Rolle.

Wichtig ist, dass man die Häufigkeit einer Krankheits­manifestat­ion, die der vermuteten Nebenwirku­ng entspricht, in der ungeimpfte­n Bevölkerun­g kennt, um diese mit dem Auftreten in der geimpften Bevölkerun­g zu vergleiche­n.

Hier muss man sehr genau die Gruppen der Ungeimpfte­n und Geimpften im Hinblick auf Alter, Grunderkra­nkungen, Medikament­eneinnahme­n und weitere medizinisc­he Faktoren untersuche­n, um sicherzust­ellen, dass die Gruppen vergleichb­ar sind.

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FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA Thomas Mertens ist seit 2017 Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion.

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