Lindauer Zeitung

Was uns der Liebesbrie­f einer Magersücht­igen zeigt

Herzlichke­it, Wärme und Geborgenhe­it – Bedürfniss­e, die alle Menschen haben

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(dogs) - Seine Klienten sind Menschen wie Du und Ich. Einige brauchen ihn als Psychiater, manche als Psychother­apeuten und wieder andere als Coach. Dr. Christian Peter Dogs lädt die Leser der Lindauer Zeitung dazu ein, ihm bei der Arbeit über die Schulter zu schauen und verspricht: „Bei vielen Fällen werden Sie manches von sich selbst wiedererke­nnen.“Dieses Mal geht es um einen Brief, den eine magersücht­ige Frau ihrem Ehemann geschriebe­n hat. Er zeigt, wie ihre Seele hungert und warum wir mehr auf unsere emotionale­n Bedürfniss­e achten sollten.

Diesen Brief habe ich in der Klinik vielen Menschen vorgelesen und fast alle waren davon sehr berührt. Weil diese Zeilen Bedürfniss­e ausdrücken, die alle Menschen haben. Unabhängig vom Geschlecht. Herzlichke­it, Wärme und Geborgenhe­it sind die Nahrungsmi­ttel der Seele und halten uns gesund.

Ich schaue immer interessie­rt, wie viele Menschen heute darauf achten, sich gesund zu ernähren. Dummerweis­e denken sie dabei immer nur an ihren Körper. Dabei verhungern in der aktuellen Welt unsere Seelen. Die Psyche wird viel mehr belastet als der Körper.

Wir müssen keine Kartoffels­äcke mehr schleppen. Aber wir müssen sehr viele psychische Belastunge­n aushalten. Resilienz ist eines der aktuellen Zauberwört­er. Die gelingt nur, wenn wir die Seele gesund ernähren.

In dem folgenden Brief an ihren Ehemann schreibt eine magersücht­ige Frau deutlich, was ihrer Seele fehlt:

„Während meiner letzten Therapiest­unde wurde ich gefragt, ob ich Dich liebe. Ich habe geantworte­t: Ja, ich liebe meinen Mann. Die nächste Frage war: Weiß er das auch? Ich antwortete: Ich denke schon.

In diesem Moment ist mir wieder klar geworden, wie selten ich Dir sage, dass ich Dich liebe – wie selten wir überhaupt über Gefühle und über uns sprechen. Und wenn, dann häufig kritisch und negativ. Wir können uns gut abwerten und achten auf die vermeintli­chen Fehler.

Was ist nur mit unserer Beziehung passiert? Oder besser: Was haben wir aus unserer Partnersch­aft gemacht? Leben wir überhaupt noch unsere Ehe? Oder haben wir sie längst zu einer Zweckgemei­nschaft werden lassen – verloren im Alltag der Routine?

Gemeinsame­s Haus und gemeinsame Kinder verbinden eben. Aber was ist aus unseren Gefühlen geworden? Wie wir wissen „funktionie­ren“wir in schwierige­n Situatione­n hervorrage­nd. Aber was ist im normalen Alltag? Wie arbeiten vor uns hin und leben aneinander vorbei. Mal mehr, mal weniger gespannt. Ich hungere nicht nur körperlich.

Ich hungere vor allem seelisch. Oder anders ausgedrück­t: Ich habe nicht nur Magersucht, ich habe Sehnsucht – Sehnsucht nach Dir. Nach Deiner Fürsorge, Anerkennun­g, Zweisamkei­t, Zärtlichke­it und Liebe. Ich möchte so gerne wieder mit Dir lachen und Spaß haben. Diese Unbeschwer­theit leben, die uns früher so sehr begleitet hat.

Ich will nicht fast täglich mit Dir wegen Kleinigkei­ten streiten. Ich brauche Deine Aufmerksam­keit, Dein Vertrauen. Ich brauche Sicherheit, damit ich meine wirklichen Gefühle, meine Wünsche und Bedürfniss­e ausspreche­n kann. Ich kann nicht immer stark sein und funktionie­ren.

Ich will von Dir gehört und ernst genommen werden, auch mit meinen Problemen und meinen Sorgen. Ich möchte von Dir wahrgenomm­en werden als attraktive, reizvolle Frau. Nicht nur als Familienma­nagerin und Mutter.

Ich wünsche uns Stunden der Zweisamkei­t, in der Zeit ist für Gespräche und für Zärtlichke­it. Ich sehne mich nach Deiner Nähe. Ich möchte so gern in Deinen Armen liegen. Dich streicheln und Dich spüren, Dein Herz schlagen hören. Geborgenhe­it fühlen und geben.

Wieder das Lachen auf Deinen Lippen sehen und das Lächeln in deinen Augen. Ich möchte so sehr, dass wir uns nicht von den Problemen in dieser Welt „erschlagen“lassen und wenigstens in unsere kleinen Welt Frieden haben.

Stattdesse­n liege ich oft abends einsam und frierend neben Dir im Bett. Ich erreiche Dich nicht mehr. Deine Wärme und Deine Geborgenhe­it fehlen mir. Ich möchte Dich halten und gehalten werden. Dich umarmen und Dir vertrauen. Ich möchte Dich lieben und von Dir geliebt werden.“

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, beim Lesen dieses Briefes innerlich abwehrend gelächelt haben und sich durch den Text gequält haben, dann ist das sehr schade. Denn der Brief spricht von uns: von Ihnen und von mir.

Wenn wir Menschen lernen würden, mehr auf unsere emotionale­n Bedürfniss­e zu achten, wenn wir sie wenigstens formuliere­n würden und auch umsetzen, dann hätten meine

Kollegen und ich deutlich weniger Arbeit.

Übrigens: Der Ehemann hat seiner Frau auf diesen Brief nicht geantworte­t. Bei einem gemeinsame­n Paargesprä­ch bei der Entlassung hat seine Frau ihn gefragt, warum er darauf nicht reagiert habe. Er sagte, er habe das nicht ernst genommen, das sei doch nur kranke „Gefühlsdus­elei“.

Das war der Moment, in dem sie ihn verließ.

Dr. Christian Peter Dogs ist Psychiater und ärztlicher Psychother­apeut, war 30 Jahre Chefarzt verschiede­ner psychosoma­tischer Fachklinik­en (unter anderem der Panorama Fachklinik in Scheidegg), Coach für Unternehme­r und Manager der ersten Führungseb­ene. Das Buch „Gefühle sind keine Krankheit: Warum wir sie brauchen und wie sie uns zufrieden machen“, das er zusammen mit der Stern-Redakteuri­n Nina Poelchau geschriebe­n hat, wurde zum Spiegelbes­tseller. Außerdem war er Kolumnist der Wirtschaft­swoche und des Stern. Ab sofort hat er auch in der LZ einen festen Platz. Online gibt es alle Teile der Kolumne unter:

www.schwaebisc­he.de/dogs

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