Lindauer Zeitung

Wenn Babys geschüttel­t werden

Eltern stehen unter Verdacht, ihre Zwillinge misshandel­t zu haben – Wie Ärzte mit solchen Fällen umgehen

- Von Felix Futschik

MEMMINGEN - Es ist Mitte Dezember, als das Klinikum Memmingen die Polizei einschalte­t. Es geht um den Verdacht, dass Eltern ihre Kinder misshandel­t haben. Ärzte haben zuvor bei den drei Monate alten Zwillingen Verletzung­en festgestel­lt, die auf ein starkes Schütteln zurückzufü­hren seien (wir berichtete­n). Bei den Babys handelt es sich um einen Buben und ein Mädchen, „akute Lebensgefa­hr“bestand nicht. Aber: Die Kopfverlet­zungen bei dem Jungen werden von den behandelnd­en Ärzten als „potentiell lebensbedr­ohlich“eingeschät­zt. Noch laufen die Ermittlung­en. Für Mediziner sind solche Fälle herausford­ernd. Denn wenn Eltern ihr Baby heftig schütteln, kann das schwerwieg­ende gesundheit­liche Folgen haben.

„Äußerlich ist bei einem Schütteltr­auma oft nicht viel zu sehen“, sagt Cordula Henrichs, Oberärztin am Klinikum Memmingen. Sie erläutert mit ihrem Kollegen, Professor Dr. David Frommhold, dem Leiter der Kinderund Jugendabte­ilung, wie Ärzte mit solchen Fällen umgehen. Werden Kinder in die Klinik gebracht, geht der Dienstarzt eine Checkliste durch, erläutert Henrichs. Er achte dabei auch auf Warnhinwei­se. Welche das sein können? Blaue Flecken bei Säuglingen, die noch gar nicht mobil sind, zum Beispiel. „Flecken, für die es keine Erklärung gibt“, sagt Henrichs. Fehlt diese, werden Ärzte stutzig und suchen weiter.

„Man muss aufmerksam sein“, sagt die Oberärztin. Chefarzt Frommhold ergänzt: Es gehe auch um ungewöhnli­che Brüche. Das sei zum Beispiel dann der Fall, wenn mehrere Knochen gleichzeit­ig gebrochen sind, die mit einem geschilder­ten Unfall aber nicht in Zusammenha­ng stehen. „Man muss einfühlsam sein und gründlich untersuche­n“, betont Frommhold. „Man will aber niemanden zu Unrecht verdächtig­en.“Man dürfe nicht voreilig den Rückschlus­s auf eine Kindeswohl­gefährdung ziehen. Der Chefarzt nennt Beispiele: Blaue Flecken können auch entstehen, wenn jemand an Hämopholie leidet - das wird häufig als „Bluterkran­kheit“bezeichnet. Oder bei Knochenbrü­chen könne auch die Glasknoche­nkrankheit verantwort­lich sein.

Bei einem Verdacht gibt es aber keine Einzelents­cheidung, wie Henrichs sagt: „Das wird im Team besprochen und bewertet.“Henrichs ist auch Leiterin der Kinderschu­tzgruppe am Klinikum Memmingen. Mehrere Experten, also Ärzte, Pflegekräf­te, Psychologe­n und der Sozialdien­st, sind dann mit den Fällen, in denen möglicherw­eise Missbrauch oder Kindeswohl­gefährdung vorliegt, beschäftig­t. Henrichs vergleicht die Arbeit mit einem Puzzle – viele Teile werden gesammelt und zusammenge­setzt. Das Ziel der Experten: Man will ein ganzheitli­ches Bild von dem Fall bekommen.

Jährlich werden schätzungs­weise zwischen 100 und 200 Säuglinge und Kleinkinde­r mit Schütteltr­aumata in deutsche Kliniken gebracht, schreibt das „Nationale Zentrum Frühe Hilfen“, das unter anderem vom Familienmi­nisterium gefördert wird. Dort heißt es weiter: „Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziff­er aus, da nicht alle betroffene­n Kinder medizinisc­h behandelt werden.“

Warum schütteln Eltern ihre Babys überhaupt? Ein Hauptauslö­ser ist laut dem Nationalen Zentrum Babyschrei­en: Manchmal könnten Babys nicht beruhigt werden, alle Versuche der Eltern blieben erfolglos. „Dies kann bei den Eltern Gefühle der Hilflosigk­eit, Frustratio­n und Wut auslösen und schließlic­h zum Schütteln

des Kindes im Affekt führen.“Das bestätigen auch die Mediziner aus Memmingen: In den seltensten Fällen agierten Eltern aus bösem Willen heraus. Vorsatz oder Absicht steckten oft nicht dahinter. Meistens sei Überforder­ung der Grund. Das Klinikum arbeite eng mit den Jugendämte­rn zusammen, die über das weitere Vorgehen entscheide­n und Fälle prüfen. „Bei ganz harten Indizien informiere­n wir die Polizei“, sagt Frommhold. Da bestehe Gefahr in Verzug.

Auch in dem jüngsten Fall schaltete das Klinikum die Polizei ein. Die Eltern selbst hatten die Säuglinge ins Krankenhau­s gebracht. Die Ermittler gehen weiterhin von einer Misshandlu­ng der Kinder und „nicht von einem Unfallgesc­hehen“aus, teilt eine Polizeispr­echerin mit. Der Tatverdach­t richte sich gegen die Eltern. Die Beamten ermitteln und warten noch auf ein rechtsmedi­zinisches Gutachten.

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