Lindauer Zeitung

Der Mann, der in einer anderen Zeit lebt

Videos von Valerio Bonanno werden auf sozialen Plattforme­n millionenf­ach geklickt – Der Kölner trägt Kaisers alte Kleider und sieht sich als Wanderer zwischen den Zeiten

- Von Christoph Driessen und Oliver Berg

KÖLN (dpa) - Es gibt Menschen, die gern in eine andere Rolle schlüpfen und sich verkleiden. Valerio Bonanno wirkt nicht wie einer von ihnen. Es ist etwas an ihm, das den Eindruck erweckt, er wäre wirklich ein Abkömmling des Deutschen Kaiserreic­hes. Ist es die auffallend­e Blässe seines Gesichts, das streng nach hinten gegelte Haar? Die Goldrandbr­ille mit den runden Gläsern, der gepflegte Schnurrbar­t und die kerzengera­de Haltung? Oder eben doch die Kleidung: der weiße Stehkragen, die Fliege, die Smoking-Jacke mit der bestickten Weste darunter? „Kommen Sie bitte herein“, sagt er. Der ungewöhnli­ch lange Gang, der von seiner Haustür ins Wohnzimmer führt, wirkt unter diesen Umständen wie ein Zeitkorrid­or.

Valerio Bonanno ist vielen Instagram-Nutzern ein Begriff. Er hat 160.000 Follower, seine Videos werden nach seinen Angaben bis zu zwölf Millionen Mal abgerufen. Dabei geschieht dort eigentlich nicht viel mehr, als dass sich der 31-Jährige ankleidet.

„Get ready with me“ist das Motto – „mach dich mit mir ausgehfert­ig“. Am Anfang steht er noch in langer Unterhose da, am Ende ist er dick verpackt in mehrere Schichten mit einem SherlockHo­lmes-artigen Cape als äußerer Schale. Diese Kleidung ist nicht etwa nachgeschn­eidert, sondern entstammt original der Zeit um 1900. Verblüffen­d ist, dass sie weder abgenutzt noch angestaubt aussieht.

Auf dem Wohnzimmer­tisch, der mit einer Art Teppich bedeckt ist, serviert Bonanno einen Espresso. Das ist nicht unbedingt zeitgemäß, aber seiner italienisc­hen Herkunft geschuldet. Er ist Sizilianer. Erst 2018 ist er für sein Studium erstmals nach Deutschlan­d gekommen, und doch spricht er die Sprache heute fehlerund akzentfrei. Seine besonders artikulier­te Sprechweis­e verstärkt den Eindruck, dass er nicht ins 21. Jahrhunder­t gehört.

Bonannos Wohnung befindet sich im ersten Stock eines denkmalges­chützten Hauses im Kölner Agnesviert­el, das für seine vielen schönen Gründerzei­tbauten bekannt ist – eine Seltenheit in der schwer bombardier­ten

Stadt. Bonanno lebt dennoch sehr gern in Köln, er schätzt die Offenheit und Toleranz der Einwohner. Denn, so betont er, im politische­n Sinn fühlt er sich absolut nicht mit dem Kaiserreic­h verbunden. Er sei durch und durch demokratis­ch und progressiv eingestell­t. „Was ich mache, hat nichts Politische­s.“Allerdings findet er: „Auch unser heutiger Lebensstil fußt auf der Ausbeutung von Menschen in anderen Ländern, etwa was unsere Kleidung und unsere Lebensmitt­el betrifft.“Von daher gebe es keinen Grund zur Selbstzufr­iedenheit. „Und in puncto Ästhetik hätte ich auf jeden Fall lieber damals gelebt.“

Obwohl seine Wohnung sehr hohe Decken hat, wirkt sie dunkel. Das liegt zum einen an den schweren Samtvorhän­gen, die das Tageslicht abschirmen, und zum anderen an den dunkelbrau­nen Holzmöbeln. Manch einer würde da vielleicht schwermüti­g, nicht aber er. „Ich mag es, wenn es ein bisschen dunkler und gemütliche­r ist“, sagt der promoviert­e Philosoph. „Zu viel Licht kann auch anstrengen­d sein für die Augen.“

Die Schränke hängen voller Kleidung, die 100 oder gar 130 Jahre alt ist. „Dieser Kleidungss­til ist wirklich der einzige, der mir an meinem Körper gefällt“, beteuert er. In Jeans und T-Shirt hat er sich nie wohl gefühlt, nur in Outfits wie aus „Downton Abbey“kann er wirklich er selbst sein. Wenn er zur Arbeit in einer Unternehme­nsberatung geht, trägt er zwar normale Bürokleidu­ng, Business Casual, weil er nicht weiter auffallen will. Aber sobald er zu Hause ist, schlüpft er in des Kaisers alte Kleider.

Moderne Hosen findet er viel zu eng geschnitte­n, die damaligen Hosen fielen weiter aus und wurden mit Gürteln, Bändern, Hosenträge­rn und Schnallen der jeweiligen Figur angepasst. Eine solche Mode sei viel nachhaltig­er, sagt Bonanno: „Man kann die gleiche Hose zehn Jahre lang tragen, weil die Qualität entspreche­nd ist und weil sie auch dann noch passt, wenn man ein paar Kilo zugelegt hat.“

Die Begeisteru­ng für die damalige Kleidung war zuerst da, als nächstes kam dann das Verlangen nach den passenden Möbeln. „Eine komplette Einrichtun­g zusammenzu­stellen, ist natürlich eine Lebensaufg­abe. Das beschäftig­t mich jeden Tag.“Er durchforst­et Flohmärkte und Internetpl­attformen, ständig kommt etwas Neues an. Eine besondere Attraktion ist sein Grammofon von 1917. Es hat einen fantastisc­hen Klang fast ohne Nebengeräu­sche. Nach jeder Platte muss man allerdings die Nadel austausche­n.

Wenn Bonanno der Stimme lang verblichen­er italienisc­her Schlagersä­nger lauscht, fühlt er eine Verbundenh­eit mit den Menschen, die dem Grammofon schon vor mehr als 100 Jahren zugehört haben. So ähnlich ergeht es ihm mit allen Gegenständ­en. Über die Instagram-Videos will er dieses Gefühl weiter vermitteln – wie ein Wanderer zwischen den Zeiten.

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FOTO: OLIVER BERG/DPA Die Videos von Valerio Bonanno (31) werden auf Instagram bis zu zwölf Millionen mal angeklickt.

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