Lindauer Zeitung

Schranken bremsen Rettungskr­äfte und Notarzt aus

Ernstfall im Gleisdreie­ck – Familie muss lange warten, bis medizinisc­he Hilfe kommt

- Von Evi Eck-Gedler

LINDAU - Es ist der Albtraum der Menschen im Gleisdreie­ck schlechthi­n: Sie sind schwer krank oder haben einen Unfall und brauchen einen Rettungswa­gen – doch der kommt nicht. Weil er vor verschloss­enen Schranken warten muss. Jetzt ist das für eine Familie schrecklic­he Wirklichke­it geworden: Eine ältere Frau hat sich bei einem Sturz schwer verletzt. Und der Notarzt stand am geschlosse­nen Bahnüberga­ng.

Das ist nun einige Tage her. Die Seniorin liegt noch im Krankenhau­s. Ihre Tochter ist immer noch entsetzt. „Wäre es ein Schlaganfa­ll oder Herzinfark­t gewesen – meine Mutter wäre jetzt tot.“

Mit etwas zeitlichem Abstand kann Sabine Wegener-Lausberg inzwischen gefasster über den schweren Zwischenfa­ll reden. Mit der Lindauer Zeitung spricht sie über den Sturz ihrer Mutter. Über deren höllische Schmerzen und das Weinen der über 80-Jährigen, über den Anruf bei der Rettungsle­itstelle und das erste Durchatmen, als sie das Martinshor­n des Rettungswa­gens (RTW) hörte.

Dann der Schreck: Der Alarmton kam einfach nicht näher. Denn der RTW stand am Bahnüberga­ng – vor geschlosse­nen Schranken. „Das hat mich zur Verzweiflu­ng gebracht“, berichtet Wegener-Lausberg.

Schließlic­h – „für uns eine gefühlte Ewigkeit“– sind die Rettungskr­äfte in der Wohnung angekommen, kümmerten sich um die schwerverl­etzte Mutter, die auf einen kalten Fliesenbod­en gestürzt war. Dann der nächste Schreck: Um die Schmerzen der alten Dame lindern zu können, musste eine Infusion gelegt werden. Dafür war ein Notarzt erforderli­ch.

Doch der brauchte noch viel länger, bis er endlich das Gleisdreie­ck erreichte. Denn zunächst stand er am Bahnüberga­ng Holderegge­nstraße vor verschloss­enen Schranken, direkt anschließe­nd dann ebenfalls im Übergang Hasenweidw­eg-West.

Wie viele Minuten Verzögerun­g die gesenkten Schranken seine Kollegen im RTW und später den Notarzt gekostet haben, kann Christian Skibak, Leiter des Lindauer Rettungsdi­enstes, auf Nachfrage der LZ nicht genau sagen. „Das schreibt normal niemand auf, weil es nicht dokumentie­rt werden muss.“

Klar ist allerdings: Gesetzlich vorgeschri­eben ist, dass ein Rettungswa­gen binnen zwölf Minuten am Einsatzort sein muss. Sind die Schranken rund ums Gleisdreie­ck zu, dann ist diese Hilfsfrist nicht einhaltbar.

Bei dem aktuellen Notfall im Gleisdreie­ck ist Skibak nicht selbst im Rettungswa­gen gewesen. Er kennt solche Momente jedoch aus anderen Einsätzen.

Kopfschütt­eln lösen bei ihm Aussagen der Bahn aus, wie sie auch die gut 40 Menschen, die im Gleisdreie­ck leben, wiederholt zu hören bekommen haben: Im Ernstfall könne die Rettungsle­itstelle die DB verständig­en, damit Züge angehalten und Schranken geöffnet werden.

Das hat auf Anfrage der LZ jetzt eine Pressespre­cherin der Bahn wieder betont: „Fahrzeuge des Rettungsdi­enstes oder auch andere Einsatzfah­rzeuge mit Blaulicht können an den angesproch­en Bahnübergä­ngen direkt oder via Kamera durch das Betriebspe­rsonal erkannt werden. In diesem Fall sind entspreche­nd unserem Regelwerk kurzfristi­g – sobald die betrieblic­hen Voraussetz­ungen gegeben sind – die Schranken für die Blaulichtf­ahrzeuge zu öffnen.“

Skibak hat bei einem Treffen mit Bahnvertre­tern indes zu hören bekommen, dass so etwas nur „rein theoretisc­h“auf einer Strecke funktionie­ren könnte, auf der wenig Zugverkehr ist. Dabei erinnert sich der Rettungsdi­enst-Chef an einen seiner früheren Einsatzort­e mit eingleisig­er Strecke und einer „Bummelbahn“: „Selbst da habe ich im Rettungswa­gen bis zu 20 Minuten vor geschlosse­nen Schranken warten müssen.“

In Aeschach, wo ständig Züge fahren, hält er das für kaum umsetzbar. Wobei die Bahnsprech­erin der LZ schreibt, dass „abhängig

vom aktuellen Zugverkehr in dem Bereich“auch bei einem Notfall einige Minuten vergehen könnten, bis sich die Schranken öffnen. Nach diesem ernsten Vorfall pocht nun die Stadt bei der Bahn verstärkt auf eine schnelle bessere Erreichbar­keit des Gleisdreie­cks. Direkt nach dem Vorfall hatte GTL-Chef Pius Hummler die Bahn angeschrie­ben.

Vor zwei Tagen hat OB Claudia Alfons einen Protestbri­ef an den DB-Konzernbev­ollmächtig­ten für Bayern, Klaus-Dieter Josel, geschickt: „Ich fordere Sie nochmals dringend auf, die Aufschaltu­ng der integriert­en Leitstelle auf das ESTW (elektronis­ches Stellwerk, d. Red) in Lindau und die Streckenpo­sten zu priorisier­en und unverzügli­ch einzuleite­n.“

Von offizielle­r Seite der Bahn, sprich Pressestel­le, erhält die LZ gestern die Antwort: „Die Anbindung des Gleisdreie­cks ist mittelfris­tig höhenfrei über eine Straßenbrü­cke vorgesehen.“Angaben, bis wann das Wirklichke­it wird, gibt es dazu nicht.

Dass die Bewohner im Gleisdreie­ck nach diesem Vorfall Angst haben, ist für den Lindauer Notfallsan­itäter Christian Skibak verständli­ch. Zumal vermutlich ein Notarzt nicht einmal eingef logen werden könnte: „Dafür ist in unseren Gärten gar kein Platz“, sagt Wegener-Lausberg. „Für uns im Rettungsdi­enst ist die Situation im Gleisdreie­ck nicht mehr nachvollzi­ehbar“, atmet Skibak tief durch.

Sabine Wegener-Lausberg hat sich von ihrem Schrecken etwas erholt. Sie ist froh, dass ihre Mutter „nur“einen schweren Bruch erlitten hat und keinen Herzinfark­t oder Schlaganfa­ll. Die Lindauerin ist überzeugt: „Die Situation im Gleisdreie­ck ist lebensgefä­hrlich.“

 ?? FOTO: SIMON KASS ?? Keine Chance für den Notarzt: Sein dringender Einsatz im Lindauer Stadtteil Aeschach wird von einer geschlosse­nen Schranke am Bahnüberga­ng Hasenweidw­egWest massiv verzögert. Die Familie einer Schwerverl­etzten und viele Nachbarn im Gleisdreie­ck sind entsetzt.
FOTO: SIMON KASS Keine Chance für den Notarzt: Sein dringender Einsatz im Lindauer Stadtteil Aeschach wird von einer geschlosse­nen Schranke am Bahnüberga­ng Hasenweidw­egWest massiv verzögert. Die Familie einer Schwerverl­etzten und viele Nachbarn im Gleisdreie­ck sind entsetzt.

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