Herbe Kritik am Standort Deutschland
BWIHK-Präsident Erbe bemängelt zu viel „Verbotspolitik“– Firmen erwägen vermehrt Investitionen im Ausland
TÜBINGEN - Deutliche Worte aus der Wirtschaft: „Deutschland ist kein Top-Standort mehr für Unternehmen“, sagt Christian O. Erbe, der Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertages (BWIHK), im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Wer könne, investiere längst verstärkt im Ausland, so die Beobachtung des Unternehmers aus Tübingen, der als BWIHK-Präsident die Interessen von mehr als 650.000 Unternehmen im Südwesten vertritt. Laut einer aktuellen BWIHK-Umfrage denken zwei Drittel der Chefs von Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern inzwischen darüber nach, für ihre Innovationstätigkeiten verstärkt außerhalb Deutschlands zu investieren.
BWIHK-Präsident Erbe verwundert dieses Ergebnis nicht. Aus seiner Sicht sind hierzulande nicht nur die Steuern und Abgaben für Unternehmen im Vergleich zu anderen Ländern zu hoch, er bemängelt auch zu viel Bürokratie und eine massive „Verbotspolitik“– aus Berlin, aber auch aus Brüssel. Daneben lasse die Politik auch in Sachen Verlässlichkeit sehr zu wünschen übrig. „Unplanbarkeit ist etwas ganz Schwieriges für Unternehmer“, sagt Erbe mit Verweis auf die Energiepolitik der Bundesregierung und die vielen neuen Regeln und Gesetze, die unentwegt erlassen würden. Von den immer wieder angekündigten Entlastungen und einem merklichen Bürokratieabbau
könne überhaupt keine Rede sein, so der Präsident, der selbst Familienunternehmer ist.
Erbe leitet in fünfter Generation die Erbe Elektromedizin GmbH in Tübingen. Das inhabergeführte Familienunternehmen mit 1800 Mitarbeitern entwickelt, produziert und vertreibt chirurgische Systeme. Demnächst eröffnet die Firma einen 90-Millionen-Euro-Neubau in Rangendingen (Zollernalbkreis), der besonders nachhaltig und energieeffizient sein wird, so Erbe. Ein klares Bekenntnis zum Standort Deutschland, sollte man meinen – doch der Unternehmer stellt auch klar: Der Beschluss zu dieser Investition sei bereits vor fünf Jahren gefallen, heute würde man möglicherweise nicht mehr so entscheiden.
Neben der Bürokratie und den hohen Kosten am Standort – insbesondere für Energie und Arbeit
– bemängelt Erbe das „generelle Misstrauen“gegenüber der Wirtschaft in Deutschland. Unternehmen und wirtschaftliches Handeln würden hier zu selten als Chance und viel zu häufig als Belastung, wenn nicht sogar als Bedrohung – etwa für die Umwelt oder die Verkehrsinfrastruktur – gesehen. In anderen Ländern sei dies vollkommen anders, berichtet Erbe, der seit Jahrzehnten auf dem gesamten Globus geschäftlich unterwegs ist.
Als Beispiel für das zunehmende Misstrauen der Politik nennt Erbe das Lieferkettengesetz, das auf Bundesebene bereits existiert und in der EU weiter diskutiert wird. Aufwand und Nutzen stünden hier in keinem akzeptablen Verhältnis. Zudem verleite es die Unternehmen dazu, ihre Lieferketten aus Effizienzgründen immer mehr einzugrenzen. Dabei sei gerade das Gegenteil – eine weitere Diversifizierung – erforderlich, wie die Corona-Pandemie gezeigt habe. Aus Erbes Sicht stellt das Gesetz eine Regelung mit geringem Nutzen dar, die jedoch die heimische Wirtschaft sehr belaste. Von der Politik wünscht sich der BWIHK-Präsident, dass diese in Zukunft viel mehr den Dialog mit der Wirtschaft suche – und zwar, bevor ein Gesetz entstehe, und nicht erst danach, wenn es Proteste und Widerstand gebe.
Auch aktuelle Kennzahlen machen nur wenig Hoffnung: Der Wirtschaft in Baden-Württemberg fehle zum Jahresbeginn „noch jede Dynamik“, berichtet der Industrie- und Handelskammertag. „Deutschland steckt in der Rezession ohne Aussicht auf schnelle Besserung“, konstatiert Präsident Erbe.
Im Januar 2024 lagen sowohl die Auftragseingänge als auch die Produktion sowie die Umsätze im Vergleich zum Vorjahresmonat deutlich im Minus, wie das Statistische Landesamt mitteilt. „Die Südwestindustrie startete damit nach einem aus wirtschaftlicher Sicht wechselvollen Jahr 2023 mit einer schweren Hypothek in das neue Jahr“, heißt es in einer Pressemitteilung der Behörde. Demnach erhielt die Industrie im Januar im Jahresvergleich preisund arbeitstäglich bereinigt deutlich weniger Aufträge (minus 7,6 Prozent). Die negative Entwicklung basierte dabei insbesondere auf dem Auslandsgeschäft (minus 10,1 Prozent). Die Produktion verzeichnete nach vorläufigen Angaben mit minus 9,2 Prozent ebenfalls einen deutlichen Rückgang. Der preisbereinigte Umsatz ging im Januar gegenüber dem Vorjahresmonat mit minus 8,6 Prozent ebenfalls stark zurück.
Für Erbe besteht mehr denn je Anlass zum Handeln. Dabei sind die Baustellen klar umrissen: Eine sichere Energieversorgung zu international wettbewerbsfähigen Preisen, eine Steuerreform zur Entlastung der Unternehmen und ein deutlicher Bürokratieabbau. Vor allem dürften im Land keine neuen Belastungen hinzukommen, auch wenn diese im Koalitionsvertrag verankert seien. „Die Rahmenbedingungen haben sich schließlich völlig verändert und es ist doch klar, dass man dann nicht an schlichtweg aus der Zeit gefallenen Forderungen festhalten kann. Die Wirtschaft braucht echte Anreize, wieder zu wachsen. Das muss Priorität in den Haushaltsberatungen des Landes haben.“Das sogenannte Wachstumschancengesetz der Bundesregierung gehe zwar in die richtige Richtung, sei vom Umfang her aber „viel zu gering“.
Eine „zeitlich begrenzte“Aussetzung der Schuldenbremse will Erbe nicht per se ausschließen – wenn alle Möglichkeiten der Priorisierung ausgeschöpft sind. Allerdings sei zunächst eine klare Strategie erforderlich, wie zusätzliche Mittel investiert werden sollen. Der BWIHK-Präsident denkt dabei an Digitalisierung, Infrastruktur und Bildung sowie an die gezielte Förderung von Forschung und Entwicklung. Keinesfalls dürfe der Sozialhaushalt weiter aufgebläht werden. „Anstatt immer mehr das Füllhorn auszuschütten, gilt es, die Menschen in Arbeit zu bringen“, sagt Erbe.
Bereits vor einem halben Jahr forderte der BWIHK-Präsident im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“eine deutlich höhere Geschwindigkeit bei der Umsetzung dringender Reformvorhaben. „Noch hat sich das Tempo nicht erhöht“, sagt er jetzt. Erbe versprüht aber auch ein wenig Optimismus: Die Einsicht, dass wir die Standortfaktoren in Deutschland ganz dringend verbessern müssen, habe sich in der Politik inzwischen durchgesetzt – „definitiv“.