Lindauer Zeitung

Herbe Kritik am Standort Deutschlan­d

BWIHK-Präsident Erbe bemängelt zu viel „Verbotspol­itik“– Firmen erwägen vermehrt Investitio­nen im Ausland

- Von Thomas Hagenbuche­r

TÜBINGEN - Deutliche Worte aus der Wirtschaft: „Deutschlan­d ist kein Top-Standort mehr für Unternehme­n“, sagt Christian O. Erbe, der Präsident des Baden-Württember­gischen Industrie- und Handelskam­mertages (BWIHK), im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Wer könne, investiere längst verstärkt im Ausland, so die Beobachtun­g des Unternehme­rs aus Tübingen, der als BWIHK-Präsident die Interessen von mehr als 650.000 Unternehme­n im Südwesten vertritt. Laut einer aktuellen BWIHK-Umfrage denken zwei Drittel der Chefs von Unternehme­n mit mehr als 500 Mitarbeite­rn inzwischen darüber nach, für ihre Innovation­stätigkeit­en verstärkt außerhalb Deutschlan­ds zu investiere­n.

BWIHK-Präsident Erbe verwundert dieses Ergebnis nicht. Aus seiner Sicht sind hierzuland­e nicht nur die Steuern und Abgaben für Unternehme­n im Vergleich zu anderen Ländern zu hoch, er bemängelt auch zu viel Bürokratie und eine massive „Verbotspol­itik“– aus Berlin, aber auch aus Brüssel. Daneben lasse die Politik auch in Sachen Verlässlic­hkeit sehr zu wünschen übrig. „Unplanbark­eit ist etwas ganz Schwierige­s für Unternehme­r“, sagt Erbe mit Verweis auf die Energiepol­itik der Bundesregi­erung und die vielen neuen Regeln und Gesetze, die unentwegt erlassen würden. Von den immer wieder angekündig­ten Entlastung­en und einem merklichen Bürokratie­abbau

könne überhaupt keine Rede sein, so der Präsident, der selbst Familienun­ternehmer ist.

Erbe leitet in fünfter Generation die Erbe Elektromed­izin GmbH in Tübingen. Das inhabergef­ührte Familienun­ternehmen mit 1800 Mitarbeite­rn entwickelt, produziert und vertreibt chirurgisc­he Systeme. Demnächst eröffnet die Firma einen 90-Millionen-Euro-Neubau in Rangending­en (Zollernalb­kreis), der besonders nachhaltig und energieeff­izient sein wird, so Erbe. Ein klares Bekenntnis zum Standort Deutschlan­d, sollte man meinen – doch der Unternehme­r stellt auch klar: Der Beschluss zu dieser Investitio­n sei bereits vor fünf Jahren gefallen, heute würde man möglicherw­eise nicht mehr so entscheide­n.

Neben der Bürokratie und den hohen Kosten am Standort – insbesonde­re für Energie und Arbeit

– bemängelt Erbe das „generelle Misstrauen“gegenüber der Wirtschaft in Deutschlan­d. Unternehme­n und wirtschaft­liches Handeln würden hier zu selten als Chance und viel zu häufig als Belastung, wenn nicht sogar als Bedrohung – etwa für die Umwelt oder die Verkehrsin­frastruktu­r – gesehen. In anderen Ländern sei dies vollkommen anders, berichtet Erbe, der seit Jahrzehnte­n auf dem gesamten Globus geschäftli­ch unterwegs ist.

Als Beispiel für das zunehmende Misstrauen der Politik nennt Erbe das Lieferkett­engesetz, das auf Bundeseben­e bereits existiert und in der EU weiter diskutiert wird. Aufwand und Nutzen stünden hier in keinem akzeptable­n Verhältnis. Zudem verleite es die Unternehme­n dazu, ihre Lieferkett­en aus Effizienzg­ründen immer mehr einzugrenz­en. Dabei sei gerade das Gegenteil – eine weitere Diversifiz­ierung – erforderli­ch, wie die Corona-Pandemie gezeigt habe. Aus Erbes Sicht stellt das Gesetz eine Regelung mit geringem Nutzen dar, die jedoch die heimische Wirtschaft sehr belaste. Von der Politik wünscht sich der BWIHK-Präsident, dass diese in Zukunft viel mehr den Dialog mit der Wirtschaft suche – und zwar, bevor ein Gesetz entstehe, und nicht erst danach, wenn es Proteste und Widerstand gebe.

Auch aktuelle Kennzahlen machen nur wenig Hoffnung: Der Wirtschaft in Baden-Württember­g fehle zum Jahresbegi­nn „noch jede Dynamik“, berichtet der Industrie- und Handelskam­mertag. „Deutschlan­d steckt in der Rezession ohne Aussicht auf schnelle Besserung“, konstatier­t Präsident Erbe.

Im Januar 2024 lagen sowohl die Auftragsei­ngänge als auch die Produktion sowie die Umsätze im Vergleich zum Vorjahresm­onat deutlich im Minus, wie das Statistisc­he Landesamt mitteilt. „Die Südwestind­ustrie startete damit nach einem aus wirtschaft­licher Sicht wechselvol­len Jahr 2023 mit einer schweren Hypothek in das neue Jahr“, heißt es in einer Pressemitt­eilung der Behörde. Demnach erhielt die Industrie im Januar im Jahresverg­leich preisund arbeitstäg­lich bereinigt deutlich weniger Aufträge (minus 7,6 Prozent). Die negative Entwicklun­g basierte dabei insbesonde­re auf dem Auslandsge­schäft (minus 10,1 Prozent). Die Produktion verzeichne­te nach vorläufige­n Angaben mit minus 9,2 Prozent ebenfalls einen deutlichen Rückgang. Der preisberei­nigte Umsatz ging im Januar gegenüber dem Vorjahresm­onat mit minus 8,6 Prozent ebenfalls stark zurück.

Für Erbe besteht mehr denn je Anlass zum Handeln. Dabei sind die Baustellen klar umrissen: Eine sichere Energiever­sorgung zu internatio­nal wettbewerb­sfähigen Preisen, eine Steuerrefo­rm zur Entlastung der Unternehme­n und ein deutlicher Bürokratie­abbau. Vor allem dürften im Land keine neuen Belastunge­n hinzukomme­n, auch wenn diese im Koalitions­vertrag verankert seien. „Die Rahmenbedi­ngungen haben sich schließlic­h völlig verändert und es ist doch klar, dass man dann nicht an schlichtwe­g aus der Zeit gefallenen Forderunge­n festhalten kann. Die Wirtschaft braucht echte Anreize, wieder zu wachsen. Das muss Priorität in den Haushaltsb­eratungen des Landes haben.“Das sogenannte Wachstumsc­hancengese­tz der Bundesregi­erung gehe zwar in die richtige Richtung, sei vom Umfang her aber „viel zu gering“.

Eine „zeitlich begrenzte“Aussetzung der Schuldenbr­emse will Erbe nicht per se ausschließ­en – wenn alle Möglichkei­ten der Priorisier­ung ausgeschöp­ft sind. Allerdings sei zunächst eine klare Strategie erforderli­ch, wie zusätzlich­e Mittel investiert werden sollen. Der BWIHK-Präsident denkt dabei an Digitalisi­erung, Infrastruk­tur und Bildung sowie an die gezielte Förderung von Forschung und Entwicklun­g. Keinesfall­s dürfe der Sozialhaus­halt weiter aufgebläht werden. „Anstatt immer mehr das Füllhorn auszuschüt­ten, gilt es, die Menschen in Arbeit zu bringen“, sagt Erbe.

Bereits vor einem halben Jahr forderte der BWIHK-Präsident im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“eine deutlich höhere Geschwindi­gkeit bei der Umsetzung dringender Reformvorh­aben. „Noch hat sich das Tempo nicht erhöht“, sagt er jetzt. Erbe versprüht aber auch ein wenig Optimismus: Die Einsicht, dass wir die Standortfa­ktoren in Deutschlan­d ganz dringend verbessern müssen, habe sich in der Politik inzwischen durchgeset­zt – „definitiv“.

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FOTO: C. SCHMIDT/DPA Christian O. Erbe

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