Beim Sport macht die Dosis das Gift
Kinder- und Jugendpsychiaterin Nora Volmer-Berthele über Nutzen und Schaden von Sport
RAVENSBURG - Ravensburg und das Schussental fiebern dem Landesturnfest entgegen, zu dem vom 30. Mai bis 2. Juni Turner aus dem ganzen Land kommen werden, um ihre Talente in Disziplinen vom Geräte- bis zum Rhönradturnen zu zeigen und sich in Wettkämpfen zu messen. Doch gerade Leistungssport hat auch Schattenseiten. Über Nutzen und Gefahren befragte Annette Vincenz Nora Volmer-Berthele (Foto: privat). Die promovierte Kinder- und Jugendpsychiaterin aus Ravensburg ist Chefärztin der Rehabilitationsklinik für Kinder und Jugendliche an den Fachkliniken Wangen, die zu den WaldburgZeil-Kliniken gehören.
Sport gilt als gesund. Manche sehen darin auch ein Allheilmittel für junge Menschen, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Wie sehen Sie das?
Sport und körperliche Bewegung können sehr hilfreich sein, um Stress abzubauen. Das Eingebundensein in einen Sportverein kann dazu beitragen, sich gesehen zu fühlen und Ansprechpartner für Sorgen und Probleme auch außerhalb der Familie zu haben. Außerdem bietet die Anbindung an einen Verein und die Ausübung von Sport die Möglichkeit, sich dort unter klaren Rahmenbedingungen mit anderen messen zu können. Dieses und das Auspowern sind sicherlich gute Möglichkeiten, die eigene Resilienz im Umgang mit Stressoren zu reduzieren und zu regulieren. Ein Allheilmittel ist Sport meiner Einschätzung nach nicht. Er kann aber ein sehr wichtiger Baustein dabei sein, für sich einen guten Weg zu finden.
Viele Kinder hassen Sport, weil sie darin nicht so gut sind. Sie fürchten den Spott der anderen, wenn es etwa um die Wahl zu Mannschaften geht und sie bis zum Ende übrig bleiben. Oder wenn sie bei den Bundesjugendspielen nicht mal eine Siegerurkunde schaffen. Kann Sport der kindlichen Psyche auch schaden?
Sport und Bewegungsangebote selbst führen an sich nicht zu einer stark erhöhten emotionalen Belastung. Das, was sehr belastend sein kann und negative Erinnerungen weckt, sind die negativen Bewertungen und die herabne lassenden Rückmeldungen. Dies spielt sowohl im Sport als auch in anderen Fächern eine Rolle. Das bedeutet nicht, dass die Rückmeldungen zum persönlichen Stand nicht wichtig sind, sehr häufig wird jedoch auch heute noch der Sportunterricht vorrangig kompetitiv, also wettkampforientiert, gestaltet. Und das kann für Einzelne, wenn die Lehrkraft nicht angemessen und rechtzeitig interveniert, belastend sein.
Wie muss Turnunterricht Ihrer Meinung nach beschaffen sein, damit die Freude an der Bewegung vor dem Leistungsdruck steht?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich selbst war eine sehr schlechte Turnerin. Hatte zwar immer genügend Kraft, um viele Übungen umsetzen zu können, aber keine Technik. Zudem kam meine Unsicherheit in der Höhe. Also bin ich statt auf dem Schwebebalken immer auf der Langbank gelaufen. Mich hat jeder ausgelacht. Der Zugang zu solchen Übungen blieb mir entsprechend verwehrt. Sobald ich konnte, habe ich Turnen abgewählt und mir andere Schwerpunkte gesucht. Jetzt wäre ich sehr froh über ein besseres Gleichgewicht.
Ich bin grundsätzlich eine Befürworterin von einer Veränderung der Bewertungen im Sportunterricht. Meiner persönlichen Meinung nach sollte diese an dem Engagement und der persönlichen Weiterentwicklung gemessen werden und weniger an den genetischen Grundvoraussetzungen, die keines der Kinder wirklich beeinflussen kann. Ich spreche mich dafür aus, dass der Spaß an der Bewegung im Fokus stehen darf. Dies bedeutet nicht, dass ich Wettkampfangebote grundsätzlich negativ sehe. Ich denke jedoch, dass das Erlernen, dass Bewegung und Sport mir gut tun können, absolute Priorität haben sollte.
Im Osten, aber mitunter auch im Westen war Doping selbst bei Kindern an der Tagesordnung, um deren Leistung zu steigern. Was richten diese Mittel im kindlichen/jugendlichen Körper an? Und was in der Psyche?
Der Einsatz von leistungssteigernden Mitteln und Methoden ist im Leistungssport meiner Einschätzung nach sehr präsent. Bereits auf Landesebene haben Leichtathleten im Jugendalter beispielsweise eigene Trainer mit klaren Trainingsvorgaben, einem eigenen Essensplan. Regelmäßige Kontrollen der Laborwerte und eiEmpfehlung für Nahrungsergänzungsmittel sind hier nicht selten. Das gibt es ja auch außerhalb des Leistungssports: die Proteinshakes, die Vitaminzusätze etc. Das wird dauerhaft und überall beworben. In der Regel sind diese Supplements teuer und nicht notwendig. Meistens auch nicht zielführend.
Es kann vorkommen, dass durch die Empfehlung, eine gewisse Nahrungsergänzung vorzunehmen ist, die Schwelle zur Einnahme anderer, auch illegaler Substanzen, gesenkt wird. In einem Bericht des Ärzteblatts von 2009 wurde beschrieben, dass circa 3 bis 12 Prozent der Kinder und Jugendlichen Medikamente einnehmen, die sie nicht benötigen, um leistungsfähiger zu sein. Das ist die eine Seite: das Gefühl, es gar nicht alleine schaffen zu können, sondern diese Mittel zu benötigen. Die andere Seite sind die Auswirkungen der möglichen Mittel selbst. Nahrungsergänzungsmittel haben in der Regel nur eingeschränkt negative Effekte, teilweise können sie mit der Zeit abführend wirkend. Eine übermäßige Eisensubstitution bei jungen Frauen führt hingegen eher zu Verstopfung. Weitere leistungssteigernde illegale Substanzen haben häufig Auswirkungen auf die Beschleunigung des Muskelwachstums und der Regenerationsfähigkeit. Hier gibt es jedoch vielfältige Präparate. Nicht selten geht dies bei Mädchen mit einer Vermännlichung des Körpers einher. Das Körperwachstum endet früher, es kann zu einem früheren ren Abschluss der körperlichen Pubertät kommen. Bei Jungen können sich hingegen die Hoden zurückbilden, ein Brustwachstum ist möglich. Eine ausgeprägte Akne sowie ein gehäuftes Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Leber- und Nierenschäden sind denkbar.
Beispiele wie die Olympischen Spiele zeigen immer wieder weinende junge Athletinnen, die von ihren jeweiligen Trainern, die sie eigentlich schützend unter ihre Fittiche nehmen sollten, bis zum Äußersten getrimmt werden. Wie beurteilen Sie extremen Leistungssport bei Heranwachsenden aus psychiatrischer Sicht?
Meiner Einschätzung nach werden junge Menschen, die mit einem besonderen Talent ausgestattet sind, häufig einseitig gefördert. Es werden die sportlichen Leistungen in den Vordergrund gestellt. Nicht selten organisiert sich die gesamte Familie um die zeitlichen Anforderung dieses Talentes. Beim Fußball die Fahrten nach Ulm ins Training, in der Leichtathletik und im Triathlon nach Freiburg zur Sichtung. Da will man als Kind, als Jugendlicher auch liefern. Will zeigen, dass alle Opfer gerechtfertigt sind.
Der Bericht der WADA (Welt-Anti-Doping-Behörde) vom Januar 2024 verdeutlicht hierbei, dass trotz der vielen Aufklärungskampagnen viele Kinder und Jugendliche mit Dopingsubstanzen versorgt werden. Der große Stress, dem diese ausgesetzt sind, um Bestleistungen im Sport zu erzielen, wird hierbei nochmal deutlich. Die weiteren wichtigen Entwicklungsschritte in der Pubertät, die Orientierung an den Gleichaltrigen, das Testen von Grenzen, die Abgrenzung, das kann hingegen alles nicht wirklich stattfinden. So verliert man teilweise den Anschluss zu der Umgebung, bleibt in der PeerGroup der Leistungsorientierten, die gleichzeitig Konkurrenten um die seltenen Kaderplätze sind. Das ist nicht leicht.
Hier braucht es eine gute Widerstandsfähigkeit. Ein gutes Netzwerk. Besteht dies, kann Leistungssport ein Gewinn für die einzelne Person sein. Die Kinder und Jugendlichen in einem gesunden Heranwachsen zu unterstützen. muss hierbei meiner Einschätzung nach oberste Priorität haben. Die Kindesschutz- und Kindeswohlkonzept-Entwicklungen in den Sportvereinen können ein erster Schritt sein. Eine Sensibilisierung von Kindern, Jugendlichen, den Eltern und dem weiteHelfernetzwerk ist unabdingbar.
In den Fachkliniken Wangen wird Sport beziehungsweise Bewegungstherapie ja auch gezielt eingesetzt, um die Kinder innerlich zu stärken. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?
Als Rehabilitationsklinik ist unser oberstes Ziel, Kinder und Jugendliche in der Verbesserung ihrer Teilhabe bei dem Vorliegen einer chronischen Erkrankung zu unterstützen. Dabei setzen wir auf Bewegung als mögliches Element zum Stressabbau, zur Stimmungsverbesserung und zur Unterstützung im Aufbau einer körperlichen Kondition. Wir versuchen, Kinder und Jugendliche individuell abzuholen und ihnen ihre persönlichen Erfolge aufzuzeigen. Neben dem allgemeinen Bewegungsangebot ist es uns dabei wichtig, dass sie unterschiedliche Bewegungsangebote kennenlernen. Zum Beispiel Klettern, Tanzen, Kraftsport, Yoga. Jeder soll für sich ausprobieren, was ihm oder ihr gut tut. Und das scheint nachhaltig einen wichtigen Effekt zu haben. Wir haben vor vier Jahren ein spezialisiertes Programm für Kinder und Jugendliche mit psychiatrischen Erkrankungen installiert. Und können hier auch zwei Jahre nach einer Rehabilitationsmaßnahme in der Begleitforschung feststellen, dass Kinder und Jugendliche davon profitieren.
Neben einem verbesserten körperlichen Wohlbefinden war auch das Selbstwertgefühl, selbst in der Befragung zwei Jahre nach Rehabilitation, signifikant erhöht. Die Verhaltensprobleme konnten auch über diesen Zeitraum deutlich reduziert werden. Der Zusammenhang mit dem verbesserten körperlichen Wohlbefinden und einer höheren körperlichen Aktivität wurde gesehen.
Wann ist Sport gesund, und wann wird er ungesund?
Hier gilt wie bei vielem anderen auch: Die Dosis macht das Gift. Wenn ich exzessiv Sport betreibe, dafür meine Freunde, Freizeitaktivitäten und die Schule vernachlässige sowie meine Gesundheit dafür riskiere – dann ist Sport ungesund. Aber natürlich darf man sich mal einer Herausforderung stellen und dann einen sportlichen Event in den Fokus rücken, drauf trainieren und so. Steht meine sportliche Aktivität in einem guten Mix mit meinen anderen Aktivitäten, kann ich weiterhin an den wichtigen Dingen im Alltag teilhaben – dann ist er eher gesund.